Resilienz-Falle

6 gängige Mythen,

die der psychischen Gesundheit schaden

Der Begriff Resilienz hat in den letzten Jahren eine bemerkenswerte Karriere hingelegt. Von der Führungsetage über Ratgeberliteratur bis hin zum alltäglichen Sprachgebrauch ist die psychische Widerstandsfähigkeit von einem psychologischen Konzept zu einem zentralen und mächtigen, von der Werbung angetriebenen Ideal vor allem in modernen Leistungsgesellschaften avanciert.

 

Die Kompetenz, mit Krisen nicht nur umgehen zu können, sondern sie auch zu bewältigen, aus Rückschlägen gestärkt hervorzugehen und flexibel auf Veränderungen zu reagieren, gilt mittlerweile als Schlüsselkompetenz für ein erfolgreiches und zufriedenes Leben. Aber diese Popularität hat eine Kehrseite: Sie hat zur Entstehung zahlreicher Vereinfachungen und Mythen geführt, die ein unrealistisches und mitunter sogar schädliches Bild von Resilienz zeichnen.

 

Aus psychologischer Sicht ist Resilienz weder Allheilmittel noch ein angeborener Superheldinnen und Superhelden-Status, sondern ein komplexes, dynamisch-wechselwirkendes Zusammenspiel von individuellen, sozialen und umweltbedingten Faktoren. Für professionelle Angebote in diesem Bereich ist ein fundiertes Verständnis essenziell, um die eigene und die mentale Gesundheit der Teilnehmenden nachhaltig zu fördern, anstatt unerreichbaren Zielen und Idealen nachzujagen.

 

Die folgenden sechs Irrtümer sind besonders weit verbreitet und bedürfen einer kritischen Einordnung.

 

Irrtum 1: Resilienz ist eine angeborene, unveränderliche Eigenschaft

 

Eines der hartnäckigsten Missverständnisse ist die Vorstellung, Resilienz sei eine feste Charaktereigenschaft, die man entweder besitzt oder nicht. Diese deterministische Sichtweise ist nicht nur wissenschaftlich unhaltbar, sondern auch demotivierend. Sie suggeriert, dass Menschen ohne diese vermeintliche "Grundausstattung" Krisen schutzlos ausgeliefert sind.

 

Die moderne Psychologie und Neurobiologie belegen jedoch genau das Gegenteil. Resilienz ist erlernbar. Das Konzept der Neuroplastizität zeigt, dass das menschliche Gehirn lebenslang in der Lage ist, sich durch neue Erfahrungen und neu erlernte Verhaltensweisen physisch und psychisch zu verändern und neu zu vernetzen. Resilienzfördernde Kompetenzen wie Problemlösungsfertigkeit und -kompetenz, Emotionsregulation oder die Fähigkeit zur Akzeptanz von weniger angenehmen bis unangenehmen Gegebenheiten können gezielt trainiert werden.

 

Man kann das mit dem Aufbau von Muskeln vergleichen: Genetische Veranlagungen beeinflussen zwar den Ausgangspunkt, doch die tatsächliche Stärke entwickelt sich erst durch bewusstes und vor allem kontinuierliches Training. Die Entwicklung von Resilienz ist somit kein passives Schicksal, sondern ein aktiver, lebenslanger Prozess der Anpassung und des Wachstums.

 

Irrtum 2: Resiliente Menschen sind unverwundbar und spüren keinen Schmerz

 

Das mit Sicherheit populärste Bild von resilienten Menschen ist das eines Felsens in der Brandung, an dem Stress und Leid spurlos abprallen. Emotionale Härte und das schnelle „Wegstecken“ von Widrigkeiten werden als Zeichen von Stärke glorifiziert. Dieses Ideal ist nicht nur unrealistisch, es ist psychologisch bedenklich.

 

Fakt ist, dass Resilienz nicht die Abwesenheit von emotionalem Schmerz bedeutet. Im Gegenteil: Resiliente Individuen durchleben Enttäuschung, Angst, Wut und Trauer genauso wie jeder andere Mensch. Der entscheidende Unterschied liegt in der Verarbeitung dieser Emotionen. Anstatt sie zu ignorieren oder zu verdrängen, was langfristig zu psychischen Belastungen wie Angststörungen oder Depressionen führen kann, verfügen resiliente Menschen über die Kompetenz zur passenden Emotionsregulation. Sie nehmen ihre Gefühle wahr, benennen und akzeptieren sie, ohne von ihnen überwältigt zu werden.

 

Diese Auseinandersetzung mit dem Schmerz, der Enttäuschung, der Angst, der Wut oder der Trauer ist die Voraussetzung für das, was in der Forschung als posttraumatisches Wachstum bezeichnet wird, konkret die positive psychologische Veränderung, die aus der Bewältigung von Krisen resultiert. Verletzlichkeit zulassen ist somit kein Defizit, sondern ein fundamentaler Schritt zur Gesundung und Stärkung.

 

Irrtum 3: Resilienz ist ein Einzelkampf und erfordert absolute Autonomie

 

Vor allem in stark individualisierten Kulturen und Gesellschaftsbereichen werden die Bewältigung von Krisen eher als persönlicher Test der eigenen Stärke dargestellt. Um Hilfe zu bitten, wird fälschlicherweise als Eingeständnis des Scheiterns interpretiert. Dieser Mythos ignoriert eine sehr wichtige Säule der Resilienz: das soziale Netzwerk.

 

Der Mensch ist ein zutiefst soziales Wesen. Seine Fähigkeit, mit Stress umzugehen und ihn zu verarbeiten und zu bewältigen, hängt maßgeblich von der Qualität der zwischenmenschlichen Beziehungen ab. Ein unterstützendes Umfeld, bestehend aus Familie, Freundinnen und Freunden oder auch professionellen Kontakten, erfüllt mehrere entscheidende Funktionen. Es bietet emotionale Entlastung durch Empathie und Verständnis (Ko-Regulation), liefert neue Perspektiven zur Problemsicht und -lösung und leistet bei Bedarf konkrete praktische Hilfe.

 

Die Kompetenz, das eigene soziale Netzwerk bewusst zu aktivieren und Unterstützung proaktiv zu suchen, ist eine der zentralen Resilienzkompetenzen überhaupt. Es ist kein Zeichen von Schwäche, sondern von intelligentem Ressourcenmanagement und Selbstfürsorge. Wahre Stärke zeigt sich nicht darin, alles allein zu ertragen, sondern darin, zu wissen, wann man andere benötigt.

 

Irrtum 4: Resilienz ist gleichbedeutend mit toxischer Positivität

 

Der gut gemeinte Ratschlag „einfach positiv denken“ wird besonders häufig als Kernstrategie der Resilienz missverstanden. Wichtig zu wissen ist, dass eine optimistische Grundhaltung nachweislich die psychische Gesundheit fördert, aber ein erzwungener oder unreflektierter Optimismus leicht ins Gegenteil umschlagen kann und in toxische Positivität führt. Dieser Ansatz negiert und invalidiert legitime negative Erlebnisse, Gefühle und Erfahrungen. Er übt Druck in die Richtung aus, stets glücklich und stark erscheinen und sein zu müssen, und verhindert eine ehrliche Auseinandersetzung mit Schwierigkeiten und Problemen.

 

Resilienz ist jedoch nicht das blinde Außerachtlassen und Ignorieren von Negativem, sondern die Kompetenz zu realistischem Optimismus. Das bedeutet, eine schwierige Situation in all ihren Facetten anzuerkennen, sie kritisch zu analysieren, aber gleichzeitig das Vertrauen und die Zuversicht zu bewahren, diese Herausforderung bewältigen zu können.

 

Ein zentrales Konzept aus der Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT) [ein kognitiv-verhaltenstherapeutischer Ansatz, der darauf abzielt, Menschen zu vermitteln, emotionalen Problemen mit Achtsamkeit und Mitgefühl offen zu begegnen und gleichzeitig in ihrem Leben das zu verfolgen, was ihnen wirklich am Herzen liegt.], die psychologische Flexibilität. Sie beschreibt diesen Prozess treffend: Es ist die Kompetenz, unangenehme Gedanken und Gefühle zu akzeptieren, während die Person gleichzeitig werteorientiert handelt. Es geht dabei darum, trotz der Schwierigkeiten handlungsfähig zu bleiben und nicht darum, so zu tun, als gäbe es die Probleme nicht.

 

Irrtum 5: Resilienz ist alleinige Verantwortung des Individuums

 

Besonders in Unternehmenskontexten hat sich die bedenkliche und manchmal auch gefährliche Tendenz etabliert, die Verantwortung für das Wohlbefinden ausschließlich auf die Schultern der Mitarbeitenden zu laden. Stress, Erschöpfung und chronische Überlastung werden in diesem Bereich als individuelle Resilienz-Defizite interpretiert, für die der bzw. die Einzelne durch allerlei Achtsamkeitskurse oder Resilienz-Trainings selbst eine Lösung finden muss.

 

Dieser Ansatz, als „Resilience-Washing“* bekannt, ignoriert konsequent die Rolle der Um- und Mitwelt. Kein Mensch kann in einem toxischen oder chronisch überfordernden System auf Dauer resilient bleiben. Faktoren wie exzessiver Arbeitsdruck, mangelnde Anerkennung, unklare Rollen oder schlechte Führung untergraben aktiv die psychischen Ressourcen. Echte Resilienzförderung muss immer auch in diesen Bereichen ansetzen. Sie erfordert die Gestaltung und den Aufbau von resilienzfördernden Organisationen, also Arbeitsumgebungen, die durch psychologische Sicherheit, faire Prozesse, soziale Unterstützung und realistische Anforderungen die Gesundheit ihrer Mitarbeitenden und Führungskräfte schützen und fördern. Die Stärkung des Individuums und die Optimierung der Verhältnisse müssen Hand in Hand gehen.

 

Irrtum 6: Einmal resilient, immer resilient

 

Und schlussendlich unterliegen viele dem Irrglauben, Resilienz sei ein Zustand, der, einmal erreicht, für immer bestehen bleibt. Nach diesem Verständnis wäre die Bewältigung einer großen Krise eine Art finaler Prüfung, nach der Frau, Mann und Divers für alle zukünftigen Herausforderungen gewappnet sind.

 

Die Realität und Wahrheit ist, dass Resilienz keine statische Eigenschaft, sondern ein fluktuierender Zustand ist. D. h., dass die psychische Widerstandsfähigkeit von einer Vielzahl von Faktoren abhängig ist, darunter die körperliche Gesundheit, das aktuelle Stressniveau, die aktuelle Lebensphase und die Art der Herausforderung, mit der eine Person konfrontiert ist.

 

Was einer Person in einer Situation geholfen hat, kann in einer anderen völlig unpassend und wirkungslos sein. Resilienz ist daher weniger ein Ziel als vielmehr eine kontinuierliche Praxis der Hygiene der Psyche. Sie erfordert laufende und kritische Selbstbeobachtung und Selbstreflexion, die Anpassung der bestehenden und verfügbaren Bewältigungsstrategien und die fortwährende Pflege der inneren und äußeren Ressourcen.

 

Fazit

 

Im Kern bedeutet Resilienz nicht die Abwesenheit von Krisen oder Schmerz. Vielmehr beschreibt sie die erlernbare Kompetenz, Widrigkeiten und Problemen aktiv zu begegnen, die eigenen Emotionen zu regulieren und sich von Rückschlägen nicht nur zu erholen, sondern an ihnen zu wachsen. Das ist ein dynamischer Prozess, der Selbstbeobachtung und Selbstwahrnehmung voraussetzt, anstatt eine angeborene Unverwundbarkeit zu sein.

 

Zudem ist Resilienz keine Kompetenz für Einzelkämpfende. Echte psychische Widerstandskraft gedeiht im Zusammenspiel von tragfähigen sozialen Beziehungen und der Bereitschaft, Unterstützung anzunehmen. Sie benötigt ein wertschätzendes Umfeld, das Sicherheit bietet und Belastungen anerkennt, anstatt die Verantwortung dem bzw. der Einzelnen zuzuschieben. Ein derart realistisches Verständnis befreit die Menschen vom Druck, perfekt sein zu müssen, und erlaubt ihnen, menschlich zu sein: verletzlich in ihren Grenzen und stark im Willen, sie zu überwinden. 

 

* Resilience-Washing hat keine direkte Entsprechung im Deutschen. Es beschreibt eine Technik, bei der Unternehmen oder Organisationen ihre Maßnahmen zur Verbesserung der Widerstandsfähigkeit (Resilienz) positiv darstellen, um von Problemen oder Krisen abzulenken oder diese zu beschönigen, ohne tatsächlich Maßnahmen zur Lösungsfindung zu ergreifen.  Es ist eine Art von „Greenwashing“, bei dem Resilienz als Alibi benutzt wird. 

 

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