Bildung „Do it yourself“

Das Individuum im Zentrum

Damit keine Missverständnisse aufkommen

Autor: Manfred Hofferer & Team, © BPÖ 2023

Das, was als sinnerfülltes und glückliches Leben bezeichnet wird, ist in jedem Fall damit verbunden, ob und in welchem Ausmaß jemand in Freiheit und Selbstverantwortung das Leben gestalten und führen kann. Freiheit ist dabei die Art und Weise, in welchem Ausmaß Frau, Mann und Divers die Entscheidungsmöglichkeiten gegeben sind, auszuwählen wie und wo er oder sie lebt, welche Verpartnerung gewählt wird, welche Ausbildung und welcher Beruf ergriffen werden genauso wie die unbehinderte Wahlmöglichkeit welcher Denk-, Geschlechts- oder Glaubensrichtung man sich zugehörig fühlt. In diesem Verständnis ist Individualisierung ein Prozess, der die Entscheidungsräume und -möglichkeiten der Menschen sukzessive ausweitet.

 

Heute erleben wir eine Zeit, in der ein nicht unbeträchtlicher Teil der Menschen ihr Leben sehr viel stärker nach den persönlichen Wünschen und Vorstellungen entfalten und gestalten kann. Dieser Umstand entwickelt sich zunehmend zu einem Megatrend - auch in den Bildungsbereichen - des noch jungen 21. Jahrhunderts. In diesem Konzept steht die Einzelperson als Individuum im Mittelpunkt und sie ist frei und autonom in ihren Bildungsentscheidungen. Ein schöner Gedanke, aber das bedeutet auch, dass jede neu gewonnene Freiheit nie ganz ohne Verpflichtung ist. D.h., dass die Menschen heute - ob sie dazu in der Lage sind oder nicht - in einem wesentlich höheren Maße dafür verantwortlich sind, sich selbst einerseits Gedanken zu ihrem Fortkommen im Bildungsbereich machen müssen und andererseits die Entscheidungshoheit darüber haben, was sie wie tun werden und wie sie damit umgehen.

 

Nimmt man das Konzept der Individualisierung ernst, dann müssen an Bildung Interessierte in zumindest acht Dimensionen wählen können:

  • Inhalte: Was wird gelernt?
  • Zeit: Wann wird gelernt?
  • Häufigkeit: In welcher Frequenz und in welchem zeitlichen Ausmaß findet Aneignung und Lernen statt?
  • Lernpfade: Welche Wahl der Wege durch die Themen und Inhalte sind möglich?
  • Vermittlungstiefe: Wie tief wird in das Thema bzw. den Inhalt vorgedrungen und was davon gelernt?
  • Begleitung und Unterstützung: Welche Unterstützungen können gewählt und in Anspruch genommen werden?
  • Lehrende: Welche Lehrenden sind verfüg- und ansprechbar?
  • Form: Kann analog, hybrid oder digital gelernt werden?

Soweit die Theorie aber der Blick in die Praxis zeigt anderes. Eine Schelmin bzw. ein Schelm, die, respektive der, behauptet das sei; sowohl für Bildungsinstitutionen wie auch die Lernenden einfach! Warum? Fakt ist, dass am Ende jeder Fachausbildung ein nachweisbares verfügen und anwenden können von Fachwissen, Kenntnisse sowie Fertigkeiten und Kompetenzen zum jeweiligen Ausbildungsbereich steht.

 

Dieser Umstand schließt aus, dass bspw. Themen, Inhalte und Tiefe auf dem Weg zum Abschluss frei wählbar sein könnten. Das sind sie nicht und hier besteht in Wahrheit nicht einmal eine Auswahlmöglichkeit, wann was gelernt wird. Warum? Weil sich der Aneignungsprozess entlang von didaktischen Prinzipien wie „Vom Bekannten zum Unbekannten“, „Vom Einfachen zum Komplexen“, „Vom Konkreten zum Abstrakten“ oder „Von der Anleitung zur Selbsttätigkeit“ bewegt.

 

Das berücksichtigend reduziert sich die Individualisierung auf die Dimensionen Zeit, Häufigkeit, Lernpfade und die Art und Weise der Unterstützung sowie die Wahl der Lehrenden. Aber auch das ist in der Praxis schwer zu bewerkstelligen, da in den jeweiligen Fachbereichen nicht beliebig oder unbegrenzt Lehrende für ein Fachthema zur Verfügung stehen. Die Konsequenz ist, dass sich auch in dieser Dimension die Auswahl- und Entscheidungsmöglichkeiten für die Lernenden einschränken.

 

Genauso verhält es sich mit der Wahl der Lernpfade. Die Forderung „Ich wähle selbst wie ich zum Ziel komme“ klingt nett und denkt sich einfach, aber in der Praxis sind strukturierbare Wege zu einem Ziel; sodass sie im Aneignungsprozess Sinn machen und Lernerfolge nach sich ziehen, eingeschränkt. Da gibt es kein beliebig und alles ist möglich. Vielmehr hilfreich ist, wenn bspw. akzeptiert wird, dass ein von den Grundlagen zu den Besonderheiten eine bewährte und höchst erfolgreiche Aneignungsstrategie ist, genauso wie angenommen werden muss, dass Autonomie und Selbstständigkeit erst in Schritten erlernt werden müssen. Das schränkt zwar die freie Wahl der Lernenden in dieser Dimension ein, erhöht jedoch die Qualität der Lernergebnisse.

 

Auch mit der Dimension Wahl der Vermittlungstiefe ergeben sich in der Praxis Probleme. Da ein anerkannter Abschluss immer auch mit einer bestimmten Tiefe der Auseinandersetzung mit den Themen und Inhalten verbunden ist bleibt im Grunde für die Lernenden nur die Wahl; ob der vorgegebenen Tiefe, im Thema vielleicht noch tiefer zu gehen oder nach mehr Querverbindungen zu suchen. D.h., hier gibt es nur die Wahl in eine Richtung.

 

Der nächste Punkt der Schwierigkeiten bereitet ist der der freien Wahl der Begleitung und Unterstützung. Auch diese Annahme ist theoretisch einfach aber in der Vermittlungspraxis höchst problematisch und schwierig zu bewerkstelligen. Fakt ist, dass die Möglichkeiten Lernende im Lern- und Aneignungsprozess zu begleiten eingeschränkt sind. Was lehrendenseitig angeboten werden kann sind eine organisatorische und fachliche Begleitung, kuratierte Lerninhalte, Recherchetipps, das Bereitstellen von passenden Lernwerkzeugen und -aufgaben und den Lernprozess begleitende Standortbestimmungen und Fortschrittskontrollen. Jetzt kann es in der Praxis zwar vorkommen, dass auf die organisatorische Begleitung verzichtet werden kann, aber der Rest ist dann doch für den Lernerfolg wesentlich und relevant. D.h., in dieser Dimension können Lernende zwar auf das eine oder andere Element verzichten aber eben nicht beliebig. Sehr viel mehr ist in diesem Zusammenhang das Vertrauen der Lernenden gefragt, dass die Lehrenden fachlich begründet wissen, warum und in welcher Art und Weise Begleitung angeboten und wie dabei vorgegangen wird und wo auf Selbst- und Eigenständigkeit gesetzt wird.

 

Was bleibt, ist; sofern Bildungsinstitutionen das Anbieten, die Wahl der Zeit und der Häufigkeit bzw. Frequenz. Aber auch in diesem Bereich zeigt der Blick in die Praxis, dass sich diese scheinbar freie Wahl dann doch auf bestimmte Monate, Wochen, Tage der Wochen und Uhrzeiten am Tag beziehen und auch die Häufigkeit aus bspw. lerntheoretischen Überlegungen heraus in einer bestimmten Frequenz bewegt. Genauso verhält es sich mit der Dimension „analog, hybrid oder digital“. Ganz abgesehen davon, dass sich bestimmte Inhalte eher in bestimmten Formen und Formaten vermitteln lassen, können Bildungsanbietende gar nicht jede Form auf jede Person passend zugeschnitten anbieten und zur Verfügung stellen.

 

In diesem Sinne, was wie eine Revolution in der Bildungslandschaft wirkt, ist in Wahrheit dann doch nicht ganz so Besonders, weil Bildung und Entwicklung verschiedenen (Sach- und Fach-) Zwängen sowie Regelhaftigkeiten und Umfeldbedingungen unterliegen. Das bedeutet, dass Individualisierung in der Bildung mehr eine Übereinkunft der Lernenden und Lehrenden darüber ist, wie sie sich innerhalb der Rahmen entlang der gegebenen Inhalts- und Vermittlungsstrukturen gemeinsam dem Lernziel annähern: Das ist, was in Wahrheit neu ist und neue Freiheitsgrade erzeugt und worauf sich Bildungsanbietende und Lernende einstellen können!

 

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