Lernen als Zumutung

Es raschelt im Kopf

Ohne Destabilisation keine Entwicklung

Lernen bedeutet (von wegen Spaß, lustig, Freude und so), auch wenn man das in bestimmten Kreisen nicht gerne hört, Destabilisation. D. h., dass echtes Lernen in jedem Fall die bewusste Irritation und Unterbrechung gewohnter Denk- und Handlungsmuster braucht, um neue Perspektiven und Herangehensweisen und Lernen zu ermöglichen.

 

Es ist eine Banalität, dass Lernprozesse mehr verlangen als nur die Aufnahme von Information und die Ausbildung von Wissen. Wer lernt, greift tief in bestehende und stabile mentale Modelle, Überzeugungen und Routinen ein. Der menschliche Geist ist davon wenig beglückt, denn er ist auf Kohärenz und Vorhersagbarkeit ausgelegt. Dabei nutzt er bestehende innere Landkarten, um in sich und der Welt orientiert zu sein. Lernen setzt jedoch voraus, dass diese Karten infrage gestellt, korrigiert und erweitert oder gänzlich neu gezeichnet werden müssen. Dieser Eingriff stört den inneren Gleichgewichtszustand, und genau das macht Lernen wirksam und gleichzeitig so herausfordernd.

 

Kognitive Dissonanz

 

Der Kontakt mit entgegengesetzten und widersprüchlichen Informationen löst unweigerlich kognitive Dissonanz aus. Das ist ein innerer Spannungszustand, der auf den Widerspruch zwischen bestehenden Überzeugungen und neuen Erkenntnissen zurückzuführen ist. Die intuitive und automatische Reaktion darauf ist in der Regel Abwehr des Neuen. Doch wer lernen und sich entwickeln möchte, muss diesen Zustand aushalten und als Anreiz verstehen und begreifen. Die hauptsächliche Arbeit besteht darin, bereits vorhandene Denkweisen zu überarbeiten und/oder gänzlich loszulassen, um in einen Bereich außerhalb der gewohnten Denkmuster zu kommen. Diese Phase ist nicht angenehm, aber notwendig. Eine strukturierende Lernbegleitung kann dabei zwar unterstützen, die Irritation einzuordnen und gezielt mit passenden Aufgaben durch diese Umbruchphase zu führen, aber Irritation bleibt Irritation.

Eine Teamleitung die jahrelang überzeugt davon war, dass Konflikte in Teams am besten durch klare Hierarchie gelöst werden, lernt in einer Teamleitungsfortbildung partizipative Techniken und Moderationen kennen. Diese zunächst fremden Anwendungen stehen im Widerspruch zum bisherigen Denken und Handeln. Erst über die kritische Auseinandersetzung mit den neuen Modellen kann auch eine neue Haltung und praktische Routine entstehen.

 

Gewohnheiten und Routinen

 

Lernen ist nie nur ein mentaler Vorgang. Es bedeutet immer auch, fest etablierte Handlungsabläufe zu durchbrechen. Routinen stiften zwar Sicherheit und sorgen für Effizienz, zwei Aspekte, die der menschliche Geist schätzt, aber gleichzeitig (Weiter-)Entwicklung verhindern. Werden diese Routinen verändert, führt das zunächst zu Verunsicherung. Die Lernenden erleben sich selbst als ungeübt, manchmal sogar als ungeschickt. Diese Verunsicherung ist kein Fehler im Lernprozess, sondern ein Zeichen dafür, dass tatsächlich an Neuem gearbeitet wird.

 

Erlernt bspw. in einer beruflichen Fortbildung eine Person eine neue Präsentationstechnik, bei der weniger Text und mehr Visualisierung gefordert ist dann werden die ersten Anwendungen unstrukturiert und unsicher wirken, weil die gewohnte Kontrolle fehlt. Fakt aber ist, dass nur durch dieses bewusste Durchbrechen alter Gewohnheiten sich das neue Format etablieren kann.

 

Inkompetenzerleben als produktive Irritation

 

Beim Erlernen neuer Inhalte, Fertigkeiten und Kompetenzen erleben sich Lernende zwangsläufig eine Zeit lang als inkompetent. Dieses wenig angenehme Inkompetenzerleben steht im Widerspruch zum menschlichen Bedürfnis nach Kontrolle und Wirksamkeit. Dabei baut sich vorübergehend ein Gefühl der Unsicherheit auf, das aber nicht als Schwäche gesehen, sondern als notwendige Zwischenphase verstanden werden muss. Der Prozess des Lernens und Entwickelns verläuft dabei auch nicht linear, sondern unregelmäßig wellenförmig. D. h., es wechseln sich Phasen des Verstehens, der Irritation und der Überforderung ab.

 

Verständlich wird dieser Umstand, wenn eine erfahrene Fachkraft neu erlernte Führungswerkzeuge anwenden soll, die auf Selbstreflexion und kooperativem Handeln beruhen. Die Anwendung und Umsetzung fallen schwer, weil sie nicht dem bisherigen Selbstverständnis entsprechen. Erst durch wiederholte Anwendung in realen Situationen festigt sich das neu erworbene Verhalten. Rückmeldeschleifen, kollegiale Beratung oder Supervision können diesen Prozess zusätzlich strukturieren und fördern.

 

Unsicherheit als wichtiger Teil von Wachstum

 

Gewohnheiten und damit verbundene Komfortzonen dienen ganz allgemein der psychischen Stabilität. Dabei ist es hilfreich, zwischen Lern-, Stretch-, Stress- und Panikzone zu unterscheiden: Während die Lernzone produktive An- und Herausforderungen bietet, können die Stress- und Panikzone Überforderung auslösen, Lernprozesse blockieren oder gänzlich verhindern. Lernen zwingt jedoch dazu, sich aus der Komfortzone herauszubewegen, hinein in die Lern- und Stretch-Zone, in der nicht alles kontrollier- und/oder vorhersehbar ist. Dieser Übertritt ist verbunden mit Fehlern, Überforderung und notwendiger Neuorientierung. Gerade im Erwachsenenlernen ist das Loslassen der gewohnten Souveränität eine zentrale Hürde, aber die damit verbundene Unsicherheit und Instabilität, die daraus resultiert, ist ein deutliches Zeichen für echtes Wachstum.

 

Deutlich wird das z.B., wenn eine Person erstmals Moderationsaufgaben in einem interdisziplinären Team übernimmt. Obwohl sie theoretisch geschult ist, fehlt es an praktischer Erfahrung. Die Unsicherheit ist unangenehm spürbar, doch genau diese Erfahrung legt die Grundlage für weiteres Lernen und den Aufbau von Handlungsroutine.

 

Lernen verändert das Selbstbild

 

Für Lehrende muss klar sein: Je tiefer ein Lernprozess geht (speziell in den Soft-Skill-Bereichen), desto stärker greift dieser in das bestehende Selbstbild ein. Neue Fertigkeiten und Kompetenzen verändern in der Folge nicht nur das Wahrnehmen, Denken, Verstehen und Verhalten, sondern auch das Selbstbild und das Selbstverständnis. Wer bspw. lernt, anders zu kommunizieren, entdeckt immer gleichzeitig auch an sich selbst neue Seiten und Nuancen. Und auch diese Entwicklung kann verunsichern, weil sie alte und fixierte, bislang wichtige Identitätsanker in ankratzt und Frage stellt.

 

Eine Person, die sich bspw. jahrelang über Leistungsstärke definiert hat, wird in einem Training zur Psychohygiene mit der Bedeutung von Pausen, Introspektions- und Reflexionsphasen konfrontiert. Diese neue Perspektive verändert nicht nur den Arbeitsstil, sondern auch die persönliche Haltung zu Erfolg. Solche Lernprozesse wirken nicht punktuell oder isoliert, sondern ganzheitlich und tiefgreifend.

 

Worum geht es?

 

Wer Lernen als rein oder vorzugsweise kognitiven Vorgang versteht, unterschätzt die psychischen und sozialen Umwälzungen, etwa in Form von Situationen, in denen Unsicherheit zugelassen werden darf, beispielsweise in moderierten Reflexionen, Fallbesprechungen oder in Lernwerkstätten, die damit einhergehen. Destabilisation darf nicht als Störfaktor angenommen werden, sondern muss integraler Bestandteil eines ernst gemeinten Lernprozesses sein. Der Kern ist, dass es darum geht, mentale und emotionale Spannungen als Ausdruck von Entwicklung und Veränderung zu begreifen. Für die Gestaltung von Lernprozessen bedeutet das: Räume schaffen, in denen Unsicherheit sein dürfen, ausgehalten und konstruktiv bearbeitet werden können. Lernbegleitende übernehmen dabei nicht die Funktion von Stabilitätsgarantinnen und -garanten, sondern von Strukturgebenden in Verwandlungsprozessen. Lernende brauchen ausreichend Gelegenheit, sich selbst neu zu verorten, fachlich, sozial und persönlich. Erst dann wird aus Wissen tatsächlich so etwas wie eine Basis für Veränderung.

 

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