Unsinn!
Simplifizierungen in der Bildung
Autor & Autorin: Manfred Hofferer, Renate Fanninger & Team, © BPÖ 2023
In der zunehmend schnelllebigen und sich immer weiter beschleunigenden Zeit neigt der lernende Mensch immer häufiger und stärker dazu, Dinge, Ereignisse, Theorien, Vorgänge und Prozesse zu vereinfachen, um sie (wahrscheinlich) rascher zu verstehen und sich besser erklären zu können. Während Vereinfachungen in vielen Bereichen des täglichen Lebens zulässig und nützlich sein können, stellen sie in der Bildung, der Beratung und im Coaching immer häufiger ein Problem dar.
Dementsprechend ist es aktuell in der Bildungsarbeit für Lehrende eine immer größere Herausforderung sich in Seminaren, Trainings und Workshop mit Simplifizierungen zu beschäftigen und mehr Zeit zur Aufklärung von unzulässigen Simplifizierungen zu reservieren. In jedem Fall Faktum ist, dass falsche Vereinfachungen - bspw. durch Ergebnisse aus Verfügbarkeits- oder Repräsentativitätsheuristik, Heuristik der Verankerung und Anpassung bzw. der Simulationsheuristik - immer zu problematischen Verzerrungen führen. Lehrende und Lernende müssen zur Kenntnis nehmen, dass die überwiegenden Dinge, Themen, Inhalte, Vorgänge und Prozesse sowie die Zusammenhänge und Wechselwirkungen komplex sind und die naive Vorstellung, mittels Vereinfachung z.B. das Leben wieder überschau- und bewältigbar zu machen, aufgeben.
Wie einfach wäre es, wenn Frau, Mann oder alle Geschlechter dazwischen als Lehrende den Lernenden, bspw. in der Ausbildung zu Jugend- und Erwachsenenbildenden, sagen könnte: „So und genauso musst du vorgehen, damit die Teilnehmenden bspw. gut und verlässlich lernen!“ Vielmehr Tatsache ist, dass es in Wahrheit anders ist und Simplifizierungen in der Bildungs- und Vermittlungsarbeit in vielen Bereichen ein massives Problem darstellen. Dazu zwölf Beispiele:
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Förderung von Vorurteilen und Stereotypen: Simplifizierungen sind (neben anderem) immer schon ein guter Nährboden für Vorurteile, Lernmythen, Feindbilder, Weltverdrehungs-
und Verschwörungserzählungen sowie die Basis zur Zuwendung zu radikalen Lösungen gewesen. Vereinfachungen fördern und verstärken zudem, neben der verzerrten Sicht auf die Realität,
Stereotypen.
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Reduktion des kritischen Denkens: Simplifizierungen untergraben die Neugier und das eigenständige kritische Denken der Lernenden, da sie simple Antworten auf komplexe Fragen-
und Problemstellungen liefern. Daraus ergibt sich der Umstand, dass zunehmend mehr Lernende massive Probleme zeigen, Informationen richtig zu analysieren, zu bewerten, zu synthetisieren und
entsprechend zu- und einzuordnen.
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Ignoranz der potenziellen Vielfalt: Jede Simplifizierung bringt zudem auch das Problem mit sich, dass die Vielfalt der Erfahrungen, Perspektiven und Hintergründe, die
Lernende in die Bildungsarbeit einbringen, außer Acht gelassen werden. Die Folge ist, dass mit einem einheitlichen Ansatz gearbeitet wird, der weder den Bedürfnissen noch den Erfahrungen der
Lernenden gerecht wird.
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Ausblenden und unterschätzen von Komplexität: Jede Form der Simplifizierung lässt komplexe Themen einfach und damit auch weniger anspruchsvoll erscheinen, als sie tatsächlich
sind. Das nährt ein falsches Verständnis der Lernenden und hindert sie daran, sich mit den Teilbereichen, Nuancen und Widersprüchen eines Themas auseinanderzusetzen.
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Behinderung der intellektuellen Entwicklung: Allgemein behindern Simplifizierungen daher auch die intellektuelle Entwicklung der Lernenden und schränken deren Fertigkeits-
und Kompetenzentwicklung, sich sachlogisch mit komplexen Phänomenen der Welt auseinanderzusetzen, ein.
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Einschränkung der Kompetenz Zusammenhänge zu erkennen: Die Vereinfachung komplexer Systeme bzw. Vorgänge und Prozesse führt rasch zu Problemlagen, in denen, durch die
Reduktion der Komplexität, ein mangelndes Verständnis des Gesamtsystems oder -prozesses die Folge ist. Die Lernenden bleiben in einfachen Teilaspekten hängen und setzen diese unter
Außerachtlassung des Gesamtsystems leicht absolut.
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Evozieren von unvorhergesehenen Problemen: Simplifizierungen führen regelmäßig zu nicht bedachten Schwierigkeiten, insbesondere dann, wenn ein hohes Maß an Interaktivität und
Kopplung zwischen unterschiedlichen Prozessen besteht. D.h., jede einfache Erklärung impliziert eine entsprechende Reaktion. Stell sich diese - weil das System komplex ist - nicht ein, stehen
die Lernenden vor einem für sie nicht lösbarem Problem.
- Kommunikationsprobleme: Übermäßige Simplifizierungen machen es schwierig bis unmöglich, komplexe Ideen oder Konzepte effektiv zu kommunizieren, da wichtige und wesentliche Details im Vereinfachungsprozess ausgeklammert wurden und verloren gegangen sind. Die Gefahr ist hoch, dass etwas vermittelt wird, das weit weg ist von dem, dass die Sache an sich (gewesen) ist.
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Informationsverlust: Jede Form der Simplifizierung führt notwendigerweise zu einem Informationsverlust, da Details entfernt oder/und die Informations- und Datenmenge (und
nicht selten beliebig) reduziert wurde.
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Begrenzung der Kreativität und Neugier: In allen Bereichen und Bildungsinhalten, in denen unreflektiert mit Simplifizierungen gearbeitet wird, bleibt als Effekt, dass die
Neugier und das Interesse an Inhalten bzw. Themen vertieft zu arbeiten eingeschränkt wird.
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Beeinträchtigung der Problemlösungsfähigkeit: Simplifizierungen schränken allgemein ein und halten im Speziellen die Lernenden davon ab, sich mit schwierigen Aufgaben- und
Problemstellungen zu beschäftigen und entsprechend komplexe Lösungsstrategien aufzubauen und zu entwickeln.
- Falsche Vorstellungen und Missverständnisse: In den Seminaren, Trainings und Workshop wird regelmäßig auch deutlich, dass zu immer mehr Themen wie bspw. Lernen, Motivation, Führung oder Achtsamkeit - sowohl was den Gegenstand als auch die Anwendung und die Wirksamkeit und Handhabung – durch Simplifizierungen eine ganze Reihe von nicht haltbaren Vorstellungen aufgebaut wurden.
Anstelle von Simplifizierungen braucht es in einer guten Bildungsumgebung Grundlagenvermittlung die gesichertes und didaktisch reduziertes Wissen als Ausgangbasis zur Verfügung stellt, um damit
den Zugang und Einstieg in ein Thema bzw. einen Lernbereich zu erleichtern. Sobald diese Grundverständnis erreicht ist, müssen Lernende explizit ermutigt und angeregt werden, fachlich korrekt in
der Sache tiefer zu gehen, Fragen zu stellen und über das hinauszudenken, was an der Oberfläche präsent ist und sichtbar sowie erkannt wurde.
Letztlich ist das Ziel guter Bildungsarbeit immer die Vorbereitung auf und Annäherung an eine Welt, die komplex, nuanciert, vielschichtig, ständig im Wandel und Veränderung ist. Um in dieser Welt erfolgreich zu sein, müssen die Lernenden in die Lage kommen, aufbauend auf gesichertem Wissen eigenständig und kritisch zu denken, Probleme analysieren zu können und kreative Lösungen für z.B. unerwartete Herausforderungen zu (er-) finden. Dies gelingt dann leichter, wenn die Lernenden ein vertieftes und breites Verständnis der Themen und Inhalte, mit denen sie sich beschäftigen, haben und sich nicht auf rasche und einfache Lösungen reduzieren.
Lange Rede kurzer Sinn: Simplifizierungen haben in der Bildung keinen Platz. Vielmehr ist die Vermittlung von gesicherten Grundlagen wichtig, insbesondere dann, wenn es darum geht, komplexe Konzepte schrittweise ein- und die Lernenden an das Begreifen heranzuführen. In jedem Fall entwertet die Orientierung an Einfachheit den Lernprozess in vielen wesentlichen Aspekten. Den Lehrenden muss stets bewusst sein, dass in der Vermittlung ein gut ausbalanciertes Gleichgewicht zwischen Komplexität und einfachen Grundlagen gefunden werden muss, um Informationen zugänglich und verständlich zu machen, ohne dabei die Tiefe und Reichhaltigkeit des Lernthemas zu opfern. Und, verantwortungsbewusste Lehrende streben zudem beharrlich danach, ihre Bildungsangebote in der Weise zu gestalten, dass sie nicht bloß Wissen zu einem Thema oder einer Sache und den Umgang damit vermitteln, sondern immer auch Leidenschaft, Neugier und ein lebenslanges Engagement für die Begegnung und Auseinandersetzung mit Komplexität und das Umgehen damit fördern.
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