Wie wird es giftig?
Psychologische Mechanismen erklären Nationalismus
Autorin & Autor: Renate Fanninger, Manfred Hofferer & Team Bildungspartner Österreich, © BPÖ 2024
Nationalismus ist aus psychologischer Sicht eine Form der kollektiven Identität, bei der Menschen ihre Zugehörigkeit zu einer Nation als zentralen Teil ihres Selbstbildes betrachten. Der Nationalismus erfüllt grundlegende psychologische Bedürfnisse nach Zugehörigkeit, Sicherheit und sozialer Bestätigung, kann jedoch sowohl positive als auch negative Auswirkungen haben und nach sich ziehen.
Positive Aspekte des Nationalismus
Nationalismus kann im positiven Sinne Zusammenhalt, Stolz und soziale Identität fördern. D.h., die Menschen fühlen sich in unsicheren Zeiten sicherer und stärker, wenn sie sich einer gemeinsamen Nation zugehörig fühlen. Er stärkt das kollektive Selbstwertgefühl und vermittelt ein Gefühl von Bedeutung und Stabilität, insbesondere in Krisenzeiten. Nationalismus kann auch Solidarität und gemeinschaftliches Engagement fördern, indem er Menschen motiviert, sich für das Wohl ihrer Gesellschaft einzusetzen und zu arbeiten.
Psychologische Konzepte hinter Nationalismus
1.
Soziale Identitätstheorie: Menschen definieren sich über die Zugehörigkeit zu Gruppen. Nationalismus verstärkt diese Gruppenzugehörigkeit, indem er die eigene Nation als besonders und
überlegen darstellt.
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Beispiel: Während internationaler Sportereignisse wie der Fußball-Weltmeisterschaft sehen sich Fans als Teil
ihrer Nation und identifizieren sich stark mit ihrer Nationalmannschaft. Der Erfolg der Mannschaft wird als kollektiver Erfolg der Nation erlebt, und Menschen empfinden Stolz, wenn „ihr Team“
gewinnt. Diese Identifikation mit der Nation verstärkt das Gefühl der Zugehörigkeit.
2.
In-Group vs. Out-Group-Dynamik: Nationalismus führt regelmäßig dazu (bzw. wird dazu missbraucht), dass Menschen ihre eigene Gruppe (Nation) bevorzugen und andere Gruppen (andere Nationen,
Kulturen, Ethnien u.a.) abwerten. Das hat zur Folge, dass sich Vorurteile etablieren und Diskriminierung nach sich ziehen.
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Beispiel: In vielen politischen Debatten über Zuwanderung werden „In-Group“-Mitglieder (die Einheimischen)
gegen „Out-Group“-Mitglieder (Zuwandernde) abgegrenzt. In Österreich beispielsweise hat die Freiheitliche Partei Österreichs oft Zuwandernde als Bedrohung für die österreichische Kultur
dargestellt, wodurch die „eigene“ Gruppe (Österreicherinnen und Österreicher) bevorzugt und Fremde abgewertet werden.
3.
Ethnozentrismus: Nationalismus fördert den Glauben und das Festhalten daran, dass die eigene Nation überlegen ist. Dies führt dazu, andere Kulturen anhand der eigenen zu bewerten, was zu
negativen Wahrnehmungen und in der Folge zu Abwertungen und Ab- und Ausgrenzungen führt.
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Beispiel: Der Nationalismus im kolonialen Europa diente oft dazu, die eigene Kultur als zivilisierter und
überlegen darzustellen, während die Kulturen der kolonisierten Völker als „primitiv“ oder „rückständig“ eingestuft wurden. Die eigene Nation wurde als Maßstab für die Bewertung anderer
Gesellschaften genommen, um die kolonialen Eroberungen zu rechtfertigen.
4.
Terror-Management-Theorie: Nationalismus kann ein Mittel sein, um mit existenziellen Ängsten in schwierigen Situationen besser umzugehen. Die Zugehörigkeit zu einer „unsterblichen“ Nation
gibt ein Gefühl von symbolischer Unsterblichkeit und Sicherheit, welche die Ängste beruhigt.
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Beispiel: Nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 in den USA nahm der Nationalismus stark zu.
Menschen zeigten vermehrt patriotische Symbole wie Flaggen, und die Unterstützung für militärische Interventionen zur „Verteidigung der Nation“ stieg an. Hier diente der Nationalismus als
Bewältigungsstrategie, um mit der Bedrohung der eigenen Existenz umzugehen.
5.
Kognitive Dissonanz: Nationalisten neigen dazu, Informationen, die das positive Bild ihrer Nation stören, zu ignorieren oder für die eigene Argumentation zurechtzubiegen. Das macht man, weil es hilft, unangenehme innere Konflikte zu vermeiden und das eigene Weltbild zu stabilisieren.
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Beispiel: In der Türkei leugnen viele Nationalisten das Massaker an den Armeniern im Ersten Weltkrieg, obwohl
internationale Historiker dies als Völkermord anerkennen. Um die positive Selbstwahrnehmung als „ehrenvolle“ Nation aufrechtzuerhalten, rechtfertigen oder ignorieren Nationalisten oft diese
historischen Fakten, um keine kognitive Dissonanz zu erleben.
6.
Soziale Dominanztheorie: Nationalismus unterstützt häufig bis oft soziale Hierarchien, in denen die eigene Nation als überlegen gilt. Menschen, die stark in diesen Hierarchien verankert
sind, neigen eher dazu, nationalistische Ideen zu unterstützen.
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Beispiel: Das Apartheid-Regime in Südafrika stützte sich stark auf eine nationale Ideologie, welche die weiße
Minderheit als überlegen betrachtete. Nationalistische Ideen, wie die Notwendigkeit der „Vorherrschaft der weißen Rasse“, dienten dazu, die sozialen Hierarchien zu legitimieren und die Macht der
weißen Bevölkerung zu festigen, während die schwarze Mehrheit unterdrückt wurde.
7.
Autoritäre Persönlichkeit: Menschen mit autoritären Neigungen sind zudem anfälliger für extremen Nationalismus, da er Gehorsam und die Abwertung von Außenseiterinnen und Außenseitern sowie
Andenkenden fördert.
o Beispiel: Im Nazi-Deutschland förderte Adolf Hitler und seine Anhängenden eine extrem nationalistische Ideologie, die den Gehorsam gegenüber dem Staat und die Abwertung von Minderheiten wie Juden, Roma und Sinti betonte. Menschen mit autoritären Persönlichkeitsmerkmalen fühlten sich von dieser Ideologie besonders angesprochen, da sie klare Hierarchien und Regeln betonte und „Andersartige“ als Bedrohung dargestellt wurden.
Gefahren des Nationalismus
Nationalismus trägt aber immer das Potenzial in sich, toxisch zu werden, wenn er aufbauend auf den zuvor genannten sieben Aspekten zu Gruppendenken, Fremdenfeindlichkeit und kollektiver Aggression führt. Kollektive Traumata oder Unsicherheit, wie sie bspw. nach einem Terrorakt entstehen, können zudem toxische nationalistische Gefühle verstärken, die in extremer Ausgrenzung, Diskriminierung und Gewalt bis hin zu (Bürger-) Kriegen sichtbar werden. Wichtig zu wissen ist, dass Emotionen wie Stolz, Angst und Wut leicht manipuliert werden können, um Menschen zu mobilisieren und für einen bestimmten Nationalismus zu radikalisieren. Dabei ist vor allem die politische Rhetorik zu erwähnen die den Nationalismus gezielt einsetzt und nationale und internationale Erfolge respektive Bedrohungen betont.
Zusammenfassung
Menschen, die es für wichtig erachten können, einem toxischen Nationalismus auf vielfältige Weise entgegenwirken, indem sie soziale Begegnungen, kritisches Denken, interkulturelle Kompetenz, Empathie und Inklusion sowie das konstruktive Miteinander fördern und pflegen. Dass dann, wenn sie in dem, was sie tun, frühzeitig in der Bildung ansetzen, kognitive Verzerrungen be- und aufarbeiten und Menschen helfen, ihre Ängste und Unsicherheiten gesund zu bewältigen, ohne in toxische Nationalismen abzurutschen, und dabei Angst- und Feindbilder auszubauen. Diese Maßnahmen tragen in jedem Fall dazu bei, dass Menschen eine offene und tolerante Haltung gegenüber anderen Ethnien, Traditionen, Religionen, Nationen und Kulturen entwickeln, und keine Notwendigkeit besteht, sich toxisch nationalistisch zu verhalten.
Nationalismus kann sowohl positive als auch negative Auswirkungen auf das Verhalten und die Gesellschaft haben. In jedem Fall erfüllt er wichtige psychologische Bedürfnisse nach Identität und Sicherheit, birgt aber gleichzeitig das Risiko, in extremistische und destruktive Formen umzuschlagen, die u. a. Vorurteile, Ausgrenzung und Gewalt fördern. Daher ist ein tiefes Verständnis der psychologischen Mechanismen hinter Nationalismen entscheidend, um extreme Ausprägungen frühzeitig zu erkennen, der Entwicklung aktiv entgegenzuwirken bzw. die Ausbreitung zu vermeiden.
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