
Potenziale fördern
Das Geschäft mit der Potentialentwicklung
Autor: innen Manfred Hofferer / Renate Fanninger & Team Bildungspartner Österreich, © BPÖ 2025
Weit im zweistelligen Milliarden Euro Bereich geben Unternehmen jährlich für Coaching, Trainings und Programme zur Potenzialentwicklung aus. Die Versprechen sind groß du die Erwartungen hoch: mehr Leistung, mehr Motivation, mehr Erfolg. Doch in der Praxis bleibt vieles davon auf der Strecke. Trotz immens hoher Investitionen fehlt es an echten und nachhaltigen Ergebnissen. Was steckt hinter dem Boom der Potenzialentwicklung – und warum funktioniert er nicht so, wie behauptet bzw. gewünscht und erwartet?
Was ist Potenzialentwicklung? Im Kern geht es bei Potenzialentwicklung um ein einfaches, aber kraftvolles Versprechen: Menschen können mehr erreichen, wenn sie ihr „volles Potenzial“ entfalten. Das gilt für den Beruf, für Beziehungen, für die eigene Persönlichkeit. Begriffe wie Selbstverwirklichung, High Performance, Talentförderung, Stärkenorientierung und Persönlichkeitsentwicklung sind eng damit verbunden. Vor allem Coaching und dabei im Spezielle das Lifecoaching gehören in diesen Kontext. Die Idee ist attraktiv. Denn sie spricht ein tiefes menschliches Bedürfnis an: den Wunsch nach Wachstum, Bedeutung und einem erfüllten Leben.
Wann wurde das Thema populär? Die Wurzeln der modernen Potenzialentwicklung reichen weit zurück. Bereits in den 1950er und 1960er Jahren prägten Vertreter der humanistischen Psychologie wie Carl Rogers und Abraham Maslow dieses Denken. Maslows berühmte Bedürfnispyramide setzt die Selbstverwirklichung an die Spitze – als höchsten menschlichen Antrieb. In den 1980er bis 2000er Jahren gewann das Thema weiter an Dynamik. Mit dem Aufkommen von Managementliteratur, Motivationsrednern und der Self-Help-Industrie wurde „mehr aus sich machen“ zur kulturellen Leitidee. Unternehmen erkannten das Potenzial – und sprangen auf. Ab 2010 explodierte der Markt. Podcasts, Online-Kurse, Social-Media-Coaches und digitale Plattformen machten Persönlichkeitsentwicklung zum Lifestyle. Auch Schulen, Universitäten und Unternehmen begannen, Stärkenorientierung und Potenzialförderung systematisch zu integrieren.
Warum ist Potenzialentwicklung ein Geschäft? Die Antwort ist einfach: Weil sie Hoffnung verkauft. Menschen haben das Gefühl, dass „mehr in ihnen steckt“. Sie wollen erfolgreicher sein, glücklicher leben, sich sicherer und wirksamer fühlen. Die Versprechen der Branche sind dementsprechend hoch: Mehr Selbstwert. Mehr Karrierechancen. Mehr Erfüllung. Mehr Erfolg. Gleichzeitig ist der Markt unerschöpflich – jeder Mensch ist potenziell Kundin oder Kunde. Besonders lukrativ ist dabei das Prinzip des ständigen „Noch-besser-Werdens“. Kaum jemand wird je behaupten, sein volles Potenzial bereits ausgeschöpft zu haben. So entsteht eine Endlosspirale aus Kursen, Seminaren, Trainings-, Coachings und Upgrades – ein Geschäftsmodell mit eingebauter Wiederkehr.
Warum funktioniert es in der Praxis nicht? Trotz (vielleicht) guter Absichten bleiben nahezu alle Programme wirkungslos. Hier einige der häufigsten Probleme:
- Selbstoptimierungsfalle: Der ständige Wunsch, „besser“ zu werden, führt nicht selten zu Überforderung und Selbstzweifeln. Anstatt sich selbst anzunehmen, entsteht das Gefühl, ständig nicht zu genügen.
- Mangel an fachlicher Substanz: Viele Angebote basieren eher auf Marketingversprechen als auf psychologischer oder pädagogischer Fachkenntnis.
- Einheitslösungen: Standardisierte Modelle („in 3/5/7 Schritten zum Erfolg“) lassen konsequent individuelle Lebensrealitäten und alles, was damit in Verbindng steht, unberücksichtigt.
- Nachlassende Motivation: Die anfängliche Euphorie verpufft rasch, wenn sich nicht unmittelbar oder/und dauerhafte Veränderung einstellt – vergleichbar mit Neujahrsvorsätzen.
- Strukturelle Ursachen werden ignoriert: Potenzialentwicklung fokussiert in fast allen Fällen auf das Individuum. Dabei sind die wahren und sehr viel häufigeren Ursachen für Schwierigkeiten und Probleme oft in den Umfeld- und Rahmenbedingungen zu finden – schlechte Arbeitsbedingungen, mangelnde Anerkennung oder fehlende Ressourcen.
- Toxische Kontrollillusion: Die Vorstellung, dass „alles möglich ist, wenn man nur will“, blendet wichtige Faktoren wie psychische Belastbarkeit, mentale Gesundheit, Privilegien oder soziale Umstände aus.
Was braucht es für wirksame Potenzialentwicklung? Trotz aller Kritik hat Potenzialentwicklung ihre Berechtigung – wenn sie realistisch, reflektiert und evidenzbasiert gestaltet wird. Erfolgreich kann sie dann werden, wenn zumindest folgende 5 Bedingungen erfüllt sind:
- Konkrete Ziele statt vager Wünsche: Es müssen klare Entwicklungsfelder definiert sein, z. B. Kommunikations- oder Konfliktlösungskompetenz.
- Individuelle Ansätze: Menschen sind unterschiedlich – dementsprechend muss auch ihre Entwicklung und die Arbeit daran betrachtet werden.
- Langfristige Prozesse statt punktueller Events: Entwicklung und Veränderung brauchen in der Regel viel Zeit, oftmalige Wiederholung und laufende Begleitung.
- Verankerung im Alltag: Neue Kenntnisse, Fertigkeiten und Kompetenzen müssen im echten Leben angwandt, geübt und reflektiert werden können.
- Außenperspektive: In jedem Fall müssen umgebende Bereiche, Aufgaben, Umfelder und Rahmenbedingungen mitgedacht und als Wirkfaktoren erkannt, berücksichtigt und bearbeitet werden.
Fazit: Potenzialentwicklung ist an sich keine schlechte Idee – im Gegenteil. Richtig umgesetzt kann sie Menschen unterstützen und ihnen helfen, sich weiterzuentwickeln, sicherer zu werden und zu handeln und wirksamer zu leben. Das Problem liegt nicht in der Idee selbst, sondern in ihrer radikalen Vereinfachung und massiven Kommerzialisierung. Wer nachhaltige Entwicklung fördern möchte, braucht mehr als ein flach recherchiertes Seminar-, Trainings oder Coachingprogramm von der Stange – er braucht fachliche Substanz klare Struktur und ein ehrliches Verständnis davon, wie Menschen wirklich lernen und wachsen.
Der Weg zu mehr Potenzial führt nicht über schnelle Lösungen. Sondern über kluge Fragen, gute Begleitung, ein realistisches Bild vom Menschen und seinem Umfeld und den Verzicht von Glücks- und Heilversprechungen.
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