
Draußen braucht es nicht viel Programm
Das ist irreführend und falsch
Autor: Manfred Hofferer & Team Bildungspartner Österreich, © BPÖ 2025
Der Werberuf der Wildnis (in Österreich sind das gerade einmal 2,9 Prozent der Staatsfläche) ist für viele verlockend, und die Vorstellung, Menschen einfach im Grünen spielen und tun zu lassen, ohne "viel Programm", klingt auf den ersten Blick befreiend. Eine romantische Vorstellung, die eine tiefe Sehnsucht nach Entschleunigung und Naturnähe in sich trägt.
Doch alle, die pädagogische Arbeit und Lernen ernst nehmen werden dieser Annahme entschieden widersprechen: Die Aussage "Im Grünen braucht es nicht viel Programm" ist, wenn es um gezieltes, nachhaltiges und effektives Lernen geht, irreführend und potenziell schädlich. Sie unterschätzt die Komplexität von Lernprozessen und die essenzielle Rolle pädagogischer Expertise.
Die trügerische Einfachheit: Was hinter der Aussage steckt
Bevor einzelne Details genauer betrachtet werden eine Klärung der Frage, warum ein Programm in der Natur unerlässlich ist. In jedem Fall lohnt es sich, die Haltung hinter dieser oft gehörten Aussage genauer zu hinterfragen. Sie speist sich aus verschiedenen Quellen:
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Romantisierung der Natur: Hier wird die Natur (der Wald, die Wiese, das Bachufer) als ein beinahe magischer Ort idealisiert, der von Natur aus alle Impulse für Entwicklung
und Lernen liefert. Es wird der Vorstellung ausgegangen, dass die Natur in ihrer Perfektion keiner menschlichen "Intervention" in Form von Strukturen und Abläufen braucht. Was ist das
Problem? Es ist, als würde man einem hungrigen Menschen ein Feld voller Weizen zeigen und erwarten, dass er sich selbstständig Brot backt, ohne ihm zu zeigen, wie man das Korn erntet, mahlt
oder den Teig zubereitet. Das Potenzial ist da, aber ohne die richtige Anleitung und die Werkzeuge bleibt es ungenutzt.
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Glaube an das freie Spiel und die Selbstregulation: Häufig verbirgt sich die irrige Überzeugung dahinter, dass Kinder, Jugendliche und erwachsene Menschen am besten lernen, wenn sie
völlig ungesteuert und autonom agieren können. Die Annahme ist, dass sie ohnedies selbst wissen, was sie brauchen, und dann besonders intrinsisch motiviert sind und sich selbst die
notwendigen Lernprozesse erschließen. Was ist das Problem? Es ist, als würde man einen Samen in die Erde legen und erwarten, dass daraus ohne Wasser, Licht und die richtige
Pflege automatisch ein kräftiger Baum wird. Der Same (das Lernpotenzial) ist da, die Erde (die Umgebung) ist da, aber ohne die gärtnerische Fürsorge (pädagogische Begleitung und Struktur)
bleibt das Wachstum zufällig, unvollständig oder gar aus.
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Kritik an Überstrukturierung: Auch nicht selten anzutreffen ist eine plakative oppositionelle Haltung. Sie ist die Reaktion auf eine subjektiv wahrgenommene Überfrachtung des
Alltags der Menschen aller Altersstufen mit Terminen und vorgegebenen Aktivitäten. In diesem Bereich ist vor allem der Wunsch nach Entschleunigung und einem „Weniger ist mehr“ treibende
Kraft. Was ist das Problem? Stellen Sie sich vor, Sie schenken einer jungen Musikerin eine wunderschöne, nagelneue Gitarre. Ihre Absicht ist großzügig: Sie wollen ihr die
"Freiheit" geben, zu spielen, wann und wie sie möchte, ohne Zwang, ohne starren Stundenplan. Das Instrument ist da, die Möglichkeit zum Musizieren scheinbar grenzenlos. Doch ohne Anleitung zu
den ersten Akkorden, ohne die Vermittlung von Noten, Rhythmusgefühl oder auch nur grundlegenden Spieltechniken bleibt die Gitarre ein stummes Stück Holz. Die Musikerin kann zwar damit
klimpern, aber sie wird ihr volles Potenzial nie entfalten, keine komplexen Melodien spielen und keine eigene Musik kreieren. Die Freiheit ohne Struktur führt hier nicht zur Meisterschaft,
sondern zur Frustration oder Stagnation.
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Fokus auf das "Erleben" statt das "Lernen": Der Schwerpunkt liegt hier in der Regel auf dem „reinen und unmittelbaren Erleben“, dem Eintauchen in die Natur, dem Spüren und
Wahrnehmen. Das bewusste, zielgerichtete Lernen von Fakten bzw. Fertigkeiten und/oder Kompetenzen tritt in den Hintergrund. Was ist das Problem? Stellen Sie sich vor, Sie
lassen ein Kind durch eine reiche Blumenwiese laufen und ermutigen es, die Farben zu sehen und den Duft zu riechen. Das ist wunderschön! Aber Sie geben ihm nie einen Spaten, erklären ihm
nicht, wie man eine Wurzel erkennt, oder wie man Samen sät, um etwas Neues zu erschaffen. Das Kind erlebt zwar die Oberfläche der Wiese, doch seine Kompetenz, die biologischen Prozesse zu
verstehen oder selbst etwas wachsen zu lassen, bleibt ungenutzt. Man bietet ihm den Genuss des Moments, verwehrt ihm aber die Werkzeuge und das Wissen für tieferes Verständnis und aktives
Gestalten.
- Vereinfachung pädagogischer Komplexität: Die Haltung, die solche Aussagen ermöglicht, unterschätzt die zentrale Rolle der pädagogischen Fachkräfte und die Vielschichtigkeit von Entwicklungs- und Lernprozessen. Sie geht davon aus, dass Lernen in der Natur quasi „automatisch" geschieht, sobald man Menschen in diese Umgebung bringt. Was ist das Problem? Stellen Sie sich vor, Sie geben einem angehenden Künstler alle Materialien, Leinwand, Farben, Pinsel usw. und stellen ihn in ein wunderschönes Atelier mit inspirierender Aussicht. Dann sagen Sie: "Hier ist alles, was du brauchst. Die Kunst wird schon von selbst geschehen." Sie ignorieren dabei die Notwendigkeit eines Mentors bzw. einer Mentorin, der respektive die Techniken vermittelt, Feedback gibt, zur Reflexion anregt und bei kreativen Blockaden hilft. Ohne diese fachkundige Begleitung bleibt der Künstler bei einfachen Kritzeleien hängen oder gibt frühzeitig frustriert auf, obwohl das Potenzial für Meisterwerke vorhanden wäre. Man überlässt ihn seinem Schicksal, statt ihn auf seinem Weg zu unterstützen und zu fördern.
Diese zugrundeliegende Perspektive ist in ihren Grundzügen zwar ehrenwert, da sie das Wohl der Menschen und die Bedeutung der Natur betont. Doch sie ignoriert konsequent, aus welchen Gründen auch immer, die Notwendigkeit einer bewussten und absichtsvollen Bildungsarbeit, die weit über das bloße Dasein und Tun im Freien hinausgeht.
Warum ein Programm im Grünen unverzichtbar ist: Die pädagogische Notwendigkeit
Die Annahme, dass die Natur sich selbst überlassen werden kann, wenn es um pädagogische Arbeit geht, ist aus mehreren Gründen irreführend und falsch:
1. Fehlende pädagogische Ziele und Struktur
Ohne ein klares pädagogisches Programm und definierte Ziele wird der Aufenthalt im Grünen schnell zu einem ungerichteten Zeitvertreib. Kinder, Jugendliche und auch erwachsene Menschen brauchen, um zu lernen einen Rahmen, der sie dabei unterstützt, Erlebtes und Erfahrenes einzuordnen, neue Zugänge und Konzepte zu verstehen und gezielt Kenntnisse, Fertigkeiten und Kompetenzen zu entwickeln und auszubauen. Ein durchdachtes und fachlich fundiertes Programm stellt sicher, dass die Aktivitäten in und mit der Natur:
- (Entwicklungs-) Altersgerecht sind und an den Entwicklungs-, Kenntnis- und Erfahrungsstand der Teilnehmenden angepasst wird.
- Klare Lernziele verfolgen (sei es im Bereich des Wissens über Flora und Fauna, der Entwicklung emotionaler oder motorischer Fertigkeiten bzw. die Stärkung sozialer und interaktiver Kompetenzen)
- Eine logische Abfolge haben und systematisch auf (u.v.a.) vorherigen Erfahrungen aufbauen, um tiefergehendes Verständnis und sich daraus entwickelnder Handlungskompetenz zu ermöglichen.
2. Mangelnde Tiefenerschließung und Reflexion
Das bloße "Sein" in der Natur führt nicht automatisch zu tiefgreifendem Lernen. Um Erlebnisse nachhaltig wirksam zu verarbeiten und in echtes Wissen und darauf aufbauender Handlungskompetenz umzuwandeln, bedarf es der Anleitung zur Begegnung, zur Introspektion und Reflexion. Ein Programm kann:
- gezielte die Wahrnehmung ausrichten, Fragen stellen, die zum Nachdenken anregen und die Beobachtung schärfen.
- strukturierte Aktivitäten anbieten, die Beobachtungen vertiefen, wie etwa das Skizzieren von Abläufen, das Führen von Beobachtungs- oder Ideenprotokollen für spätere Aktivitäten oder Projekte oder das genaue Beschreiben von Vorgängen und/oder Phänomenen.
- Gespräche und Diskussionen fördern, die verschiedene Aspekte und Perspektiven aufzeigen und zum Austausch über das Erfahrene anregen. Ohne diese strukturierte Auseinandersetzung bleiben Eindrücke oberflächlich, und das enorme Lernpotenzial der Aktivität in und mit der Natur bleibt ungenutzt.
3. Ungenutzte Potenziale der Natur als Lernumgebung
Die Natur ist eine unschätzbare Lernumgebung, die weit über das Beobachten von Pflanzen und Tieren hinausgeht. Ein gut konzipiertes pädagogisches Programm kann:
- Naturwissenschaftliche Prinzipien erlebbar machen, indem es zum Beispiel Ökosysteme, Nahrungsketten oder den Wasserkreislauf anschaulich erklärt und praktisch erfahrbar macht.
- die Kreativität anregen durch Bauprojekte mit Naturmaterialien, kleine und große Naturkunstwerke oder natursportliche Aktivitäten.
- Soziale Kompetenzen fördern, etwa durch Teamarbeit bei der Umsetzung eines Waldarchitekturprojekts, gemeinsame Problemlösung bei Suchaufgaben oder das Einhalten von Regeln in der Gruppe, wenn es um Werkzeuggebrauch und Arbeitsabläufe geht.
- die Wahrnehmung schärfen und alle Sinne ansprechen, indem bewusst auf Geräusche, Gerüche, Texturen und Farben geachtet wird. Ohne gezielte Anregungen und Aufgaben bleiben viele dieser reichhaltigen Lernpotenziale unerschlossen und werden nicht bewusst zur Förderung und des gezielten Lernens eingesetzt.
4. Sicherheitsaspekte und Verantwortlichkeit
Pädagogische Arbeit in der Natur erfordert zudem ein hohes Maß an Verantwortung für die Sicherheit der Teilnehmenden. Ein „kein Programm"-Ansatz ignoriert die Notwendigkeit von:
- Risikoeinschätzung und einem umfassenden Sicherheitsmanagement.
- klaren Verhaltensregeln im Umgang mit der Natur, ihren Bewohnern und untereinander.
- Vorbereitung auf unvorhergesehene Situationen wie Wetterumschwünge, kleinere Verletzungen oder Orientierungsverlust.
Ein strukturiertes Programm beinhaltet (neben vielem anderen) auch die präzise Planung und Umsetzung dieser essenziellen Sicherheitsmaßnahmen, um einen geschützten Lernraum zu gewährleisten.
5. Fehlende individuelle Anpassung und Inklusion
Jeder Mensch und das dazu auch in jedem Lebensalter lernt anders und bringt unterschiedliche Voraussetzungen mit. Ein unstrukturiertes Vorgehen in der Natur hat zur Folge, dass:
- einige sich unterfordert oder gelangweilt fühlen, weil keine passenden Herausforderungen geboten werden.
- andere überfordert sind, Ängste entwickeln oder sich ausgeschlossen fühlen.
- spezielle Bedürfnisse, wie motorische Einschränkungen, Lernschwierigkeiten oder kulturelle Hintergründe, nicht berücksichtigt werden können. Ein durchdachtes Programm ermöglicht es der pädagogischen Fachkraft, auf individuelle Bedürfnisse einzugehen, differenzierte Angebote zu machen und auf diese Weise individuell und inklusiv aktiv zu fördern.
Alles in Allem: Naturerfahrung braucht Programm mit viel Köpfchen
Die Aussage "Im Grünen braucht es nicht viel Programm" ist eine aus fachlicher Sicht höchst naiv und gefährliche Vereinfachung. Die Natur ist zweifellos ein fantastischer Lernort, aber ihr Potenzial entfaltet sie erst, wenn sie von engagierten Pädagoginnen und Pädagogen mit klaren Zielen, durchdachter Struktur und gezielt eingesetzten Aktivitäten als Lernumgebung erschlossen und genutzt wird. Es geht nicht darum, die Arbeit in und mit der Natur mit überfrachteten Lehrplänen zu "programmieren", sondern darum, einen sinnvollen und flexiblen Raum und Rahmen zu schaffen, der Natur-, Um- und Mitwelterfahrungen in nachhaltiges Lernen überführt.
Gute Bildung in der Natur ist ein Handwerk, das sowohl das „freie Spiel“ als auch die gezielte Förderung beinhaltet. Sie erfordert Wissen über Natur und Entwicklung, Kreativität bei der Gestaltung von Angeboten und die Kompetenz, flexibel auf die Ausgangslagen und Bedürfnisse der Zielgruppe einzugehen und situativ reagieren zu können. Nur so kann sichergestellt werden, dass die Teilnehmenden nicht nur eine schöne Zeit in und mit der Natur verbringen, sondern dort auch wertvolle Kompetenzen für ihr Leben aufbauen.
Wo wäre der Mensch heute, wenn bloßes „sich selbst überlassen werden" in der Natur, ohne Anleitung, ausgereicht hätte? Er würde noch in Höhlen leben. Das Rad müsste jede Generation neu erfinden. Es gäbe keine Medizin, keine Technologie, kein Smartphone, keine Raumfahrt. Wissenschaftliche Erkenntnisse wären ein Fremdwort, da systematische Beobachtung und Experimente fehlten. Auch unsere Gesellschaft bliebe ursprünglich, ohne unterschiedliche Vergesellschaftungen, Rechtssysteme oder die Kompetenz zur komplexen Kooperation.
Diese Haltung ignoriert, dass menschliche Entwicklung und Fortschritt Bildung und Kultur erfordern. Wir lernen durch gezielte Wissensweitergabe, strukturierte Erfahrungen und bewusste Reflexion. Die Natur ist inspirierend, doch ohne pädagogische Begleitung ist sie kein Selbstläufer für komplexe Entwicklung. Ohne sie gäbe es keine Zivilisation.
Wenn Interesse und Bedarf bestehen, unterstützen wir dich gerne. Reden wir darüber! Unsere Angebote zu diesem Themenbereich:
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