
Konstruktion der Realität
Vom philosophischen Rätsel des fallenden Baumes zur Macht der medialen Berichterstattung
Autor: Manfred Hofferer & Team Bildungspartner Österreich, © BPÖ 2025
Ein bekanntes philosophisches Gedankenexperiment fragt, ob ein im Wald umstürzender Baum ein Geräusch macht, wenn kein Lebewesen anwesend ist, um es zu hören. Diese auf den ersten Blick einfache Frage öffnet, wenn man sich darauf einlässt, eine tiefgreifende Debatte über die Natur der Realität, der Wahrnehmung und der Existenz.
Die Logik dieses klassischen Rätsels (Das Originalbeispiel ist ein philosophisches Gedankenexperiment, das mit dem irischen Philosophen George Berkeley in Verbindung gebracht wird, obwohl er die Frage nie wörtlich so formuliert hat. Die heute bekannte Formulierung stammt wahrscheinlich aus dem 19. Jahrhundert.) bietet ein repräsentatives Modell, um die Funktionsweise und den Einfluss der modernen Medienlandschaft zu analysieren und die Art und Weise zu verstehen, wie gesellschaftliche Wirklichkeit vermittelt und geformt wird.
Das Geräusch im leeren Wald: Physik versus Phänomenologie
Die Antwort auf die eingangs gestellte Frage hängt fundamental von der zugrunde gelegten Definition des Begriffs „Geräusch“ ab. Daraus ergeben sich zwei gegensätzliche, aber jeweils in sich schlüssige Perspektiven.
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Die physikalische Realität: D.h., dass aus naturwissenschaftlicher Sicht ein Geräusch die Folge eines mechanischen Ereignisses ist. Der Aufprall des Baumes versetzt die Moleküle des
umgebenden Mediums, in diesem Fall der Luft, in Schwingung. Diese Schwingungen breiten sich als Druck- bzw. Schallwellen aus. Dieses physikalische Phänomen existiert objektiv. Bei diesem
Ereignis wird Energie übertragen, die Luft komprimiert und wieder entspannt, unabhängig davon, ob ein Ohr diese Schwingungen empfängt oder nicht. Auch die Tierwelt des Waldes, von Insekten
bis zu Säugetieren, würde diese Vibrationen wahrnehmen. Die physikalische Grundlage für ein Geräusch ist also zweifellos gegeben.
- Die phänomenologische Realität: Die Philosophie, insbesondere die Phänomenologie (die Lehre von den Erscheinungen), argumentiert anders. Sie definiert „Geräusch“ nicht als die Welle selbst, sondern als die bewusste Sinneswahrnehmung, also das qualitative Erlebnis des Hörens. Dieser Vorgang erfordert einen Wahrnehmungsapparat (ein Ohr) und ein Bewusstsein (das Gehirn), das die empfangenen Signale verarbeitet, interpretiert und ihnen die Qualität „Geräusch“ zuordnet. Ohne einen solchen Beobachtenden gäbe es demnach nur stille, uninterpretierte Schwingungen in der Luft, aber kein Hörerlebnis.
Der philosophische Ursprung: „Sein heißt Wahrgenommenwerden“
Dieses Gedankenexperiment ist, wie schon erwähnt, untrennbar mit dem irischen Philosophen George Berkeley (1685-1753) und seiner radikalen Form des Idealismus verbunden. Sein zentraler Leitsatz lautete „Esse est percipi“: „Sein heißt Wahrgenommenwerden“. Berkeley vertrat die Auffassung, dass materielle Objekte nicht unabhängig vom Geist existieren. Stattdessen sind sie mehr oder weniger Sammlungen von Ideen bzw. und/oder Sinneswahrnehmungen, die nur im Geist der Betrachtenden existieren. Folgt man dieser Logik konsequent, so existiert nicht nur das Geräusch des Baumes nicht ohne Hörende, sondern der Baum selbst existiert nicht ohne Wahrnehmende. Während die moderne Wissenschaft auf dem Realismus aufbaut, also der Annahme einer Beobachtenden unabhängigen Welt, dient Berkeleys provokante These als gutes Werkzeug, um die Rolle der Wahrnehmung bei der Konstruktion der Wirklichkeit zu hinterfragen.
Die Übertragung: Wenn Medien die Welt erschaffen
Die Logik des fallenden Baumes lässt sich sehr gut auf die heutige Informationsgesellschaft übertragen. Die Frage lautet hier: Wenn ein Ereignis stattfindet, aber kein Medium darüber berichtet, hat es dann für die Gesellschaft stattgefunden?
Die Antwort ist auch hier zweigeteilt. Das Ereignis an sich, bspw. eine Hungersnot, ein politischer Vertragsabschluss, ein wissenschaftlicher Durchbruch u. Ä, ist ein objektiver Vorgang. Es geschieht in der realen Welt. Für die öffentliche Sphäre und den gesellschaftlichen Diskurs bleibt es jedoch inexistent, solange es nicht durch die Medien aufgegriffen und verbreitet wird. Die mediale Berichterstattung ist somit der Prozess, der aus einem isolierten Ereignis eine weithin bekannte und diskutierte „Nachricht“ macht. Ohne diese „Beobachtenden“ bleibt das Ereignis für die meisten Menschen stumm und unsichtbar.
Gatekeeper und Agenda-Setting: Die Macht der Auswahl
Medieninstitutionen agieren als die entscheidenden Gatekeeper (Torwächter) der öffentlichen Aufmerksamkeit. Angesichts einer unendlichen Menge an täglichen Ereignissen weltweit treffen sie eine Auswahl, die bestimmt, was als berichtenswert gilt und was still und nicht informiert bleibt. Diese Auswahl wird von journalistischen Kriterien, aber auch von ökonomischen Zwängen und der vermuteten Relevanz für das Zielpublikum beeinflusst.
Dieser Prozess des Gatekeepings führt direkt zum Phänomen des Agenda-Settings. Indem Medien (aus unterschiedlichsten Gründen) bestimmte Themen hervorheben und andere ignorieren, bestimmen sie, worüber die Gesellschaft nachdenkt, diskutiert, entsetzt oder ergriffen ist. So kann eine tagelange Berichterstattung über das Privatleben einer berühmten Person die Wahrnehmung für zeitgleich stattfindende, aber nicht behandelte ökologische oder politische Krisen vollständig verdrängen. Das Ereignis, das keine mediale Bühne erhält, findet im öffentlichen Bewusstsein kaum bis gar nicht statt, kann keine politischen Reaktionen provozieren und wird damit auch nicht Teil des sogenannten kollektiven Gedächtnisses.
Zwischen objektivem Ereignis und konstruierter Wirklichkeit
Das Gedankenexperiment des fallenden Baumes gibt eine zeitlose Lektion über den kritischen Unterschied zwischen einem Ereignis an sich und seiner Wahrnehmung. In der modernen Welt sind es die Medien, die als primärer Wahrnehmungsapparat der Gesellschaft fungieren. Sie übersetzen die unzähligen „Schallwellen“ globaler Ereignisse in die „Geräusche“, die der Mensch als seine soziale und politische Realität versteht. Die Entwicklung von Medienkompetenz bedeutet daher vor allem, sich dieser konstruktiven Leistung bewusst zu sein und zu hinterfragen, welche „Bäume“ umfallen, ohne dass wir je davon hören.
Was bedeutet das für die Pädagogik?
Eine spannende Frage. Die Übertragung dieser philosophischen und medientheoretischen Überlegungen auf die Pädagogik, insbesondere die der Erwachsenenbildung, ist äußerst fruchtbar. Die zentrale Erkenntnis, der Unterschied zwischen einem objektiven Ereignis und seiner subjektiven oder medialen Wahrnehmung, bildet die Grundlage für mehrere Kernkompetenzen, die in der modernen Erwachsenenbildung angestrebt werden müssen. Nachfolgend die wesentlichen Ableitungen für die Pädagogik der Erwachsenenbildung:
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1. Kernziel: Förderung von kritischem Denken und Mündigkeit: Die wichtigste Ableitung ist die Notwendigkeit, kritisches Denken zu schulen. Das Beispiel des Baumes und der Medien
zeigt, dass Realität nicht einfach konsumiert, sondern aktiv hinterfragt werden muss.
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- Pädagogische Konsequenz: Erwachsene Lernende müssen befähigt werden, nicht nur Faktenwissen aufzunehmen, sondern die Konstruktionsprozesse hinter diesem Wissen zu verstehen.
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- Fragen im Lernraum: Wer sagt das? Mit welcher Absicht? Welche Perspektive wird ausgelassen? Welche wirtschaftlichen, politischen oder religiösen Interessen stehen hinter einer Information?
- Ziel: Die Lernenden müssen von passiven Informationsempfangenden zu mündigen, selbstbestimmten Subjekten werden, die ihre eigene Urteilskraft entwickeln und laufend verbessern und schärfen.
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2. Entwicklung einer tiefgreifenden Medienkompetenz: Die Analogie zur Medienberichterstattung macht deutlich, dass einfache Mediennutzung nicht ausreicht. Es bedarf einer
fortgeschrittenen Medienkompetenz, die über die technische Anwendung hinausgeht.
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- Pädagogische Konsequenz: Erwachsenenbildung muss Bildungsangebote machen, die sich gezielt mit den Besonderheiten und Mechanismen der Medien- und Informationswelt befassen.
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- Inhalte: Analyse von Gatekeeping und Agenda-Setting. Untersuchung von Framing (Wie wird ein Thema durch Wortwahl und Bilder in einen bestimmten Deutungsrahmen gesetzt?). Diskussion über Echokammern und Filterblasen in sozialen Medien.
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Methoden: Praktische Quellenanalyse, Vergleich der Berichterstattung verschiedener Medien zum selben Ereignis, Erstellung eigener Medienprodukte, um die
Produktionsprozesse selbst zu erfahren.
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3. Anerkennung und Nutzung der subjektiven Wirklichkeiten der Lernenden: Das philosophische Prinzip „Sein ist Wahrgenommenwerden“ kann direkt auf den Lernprozess angewendet
werden. Jede und Jeder Lernende betritt den Bildungsraum mit einer eigenen, durch Lebensgeschichte, persönliche Erfahrungen und medialen Konsum geformten Realität.
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- Pädagogische Konsequenz: Der Ausgangspunkt des Lernens ist nicht ein vermeintlich objektiver Fakt, sondern die subjektive Lebenswelt der Teilnehmenden.
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- Methoden: Biographiearbeit, sokratische Gespräche, Lerntagebücher und partizipative Methoden, bei denen die Erfahrungen der Lernenden als wertvolle Ressource für den gemeinsamen Lernprozess genutzt werden.
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Ziel: Die eigene Wahrnehmung und die der anderen zu reflektieren und zu verstehen, dass es immer multiple Realitäten im gesellschaftlichen Raum gibt.
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4. Das Thematisieren des „Nicht-Gesagten“: Die Frage nach dem Baum, den niemand hört, ist also eine Metapher für alles, was in unserer Gesellschaft unsichtbar oder marginalisiert
ist. Eine kritische Pädagogik muss sich fragen: Welche Themen fallen in den "leeren Wald"?
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- Pädagogische Konsequenz: Erwachsenenbildung hat den Auftrag, auch unbequeme, Nischen- oder marginalisierte Themen aktiv in den Diskurs einzubringen.
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- Rolle des Lehrenden: Nicht nur Wissensvermittelnde, sondern auch "Aufmerksamkeits-Lenkende". Er oder sie muss den Mut haben, Themen anzusprechen, die im medialen Mainstream untergehen (z.B. bestimmte soziale Ungerechtigkeiten, globale Krisen, vergessene historische Ereignisse).
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Ziel: Den Horizont der Lernenden erweitern und sie für die blinden Flecken der öffentlichen Wahrnehmung sensibilisieren.
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5. Neuausrichtung der Rolle des Lehrenden: Aus den genannten Punkten ergibt sich ein spezifisches Rollenverständnis für Pädagoginnen und Pädagogen in der Erwachsenenbildung.
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- Pädagogische Konsequenz: Die Lehrenden sind weniger Expertin und Experte, die „absolute Wahrheiten“ verkündet, sondern vielmehr Moderatorinnen und Moderatoren sowie Gestalterinnen und Gestalter von kritischen Lernumgebungen.
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- Aufgaben: Sie stellen Fragen, statt Antworten zu geben, sie fordern zum Perspektivwechsel auf, moderieren Kontroversen und unterstützen die Lernenden dabei, ihre eigenen Werkzeuge zur Analyse der Welt zu entwickeln.
Insgesamt bedeutet das: Die Auseinandersetzung mit dem "fallenden Baum" führt die Erwachsenenbildung hin zu einem emanzipatorischen Bildungsansatz. Das ultimative Ziel ist die Befähigung des Individuums, die Konstruiertheit der eigenen und der öffentlichen Realität zu durchschauen und aktiv sowie reflektiert an der Gesellschaft teilzuhaben. Sich dazu schlau machen, lohnt sich!
Wenn Interesse und Bedarf bestehen, unterstützen wir dich gerne. Reden wir darüber! Unsere Angebote zu diesem Themenbereich:
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