
Die vermessene Welt
Der Mensch muss urteilen
Autor und Autorin: Manfred Hofferer, Renate Fanninger & Team Bildungspartner Österreich, © BPÖ 2025
Ein flüchtiger Blick auf das Gegenüber in der U-Bahn, eine unmittelbare Einschätzung eines neuen Kinofilms nach dem Trailer, ein entschiedener Kommentar unter einem Online-Artikel. Das menschliche Dasein ist ein unaufhörlicher Strom von Urteilen. Kaum eine Wahrnehmung bleibt unberührt von einer schnellen Einordnung, kaum eine Beobachtung ohne eine darauffolgende Bewertung.
Dieses Verhalten, oft als oberflächlich oder vorschnell abgetan, ist bei genauerer Betrachtung weder eine Unsitte noch ein individueller Makel. Es ist vielmehr ein aus der Evolution heraus entwickelter und tief in der menschlichen Psyche verankerter Mechanismus, eine grundlegende Überlebensstrategie, die es dem Menschen erst ermöglicht, in einer unendlich komplexen Welt zu navigieren. Die Gründe für dieses unaufhörliche Vermessen der Welt sind vielschichtig und reichen von der reinen Notwendigkeit kognitiver Entlastung über archaische Überlebensinstinkte bis hin zu den komplexen Regeln des sozialen Miteinanders.
Das Gehirn als unermüdlicher Archivar: Ordnung im Chaos der Wahrnehmung
Das menschliche Gehirn ist ein biologisches Wunderding, doch seine Verarbeitungskapazität ist endlich. Jede Sekunde wird es mit Millionen von Sinneseindrücken bombardiert: Farben, Geräusche, Gerüche, soziale Signale. Wollte man jede dieser Informationen einzeln und bewusst verarbeiten, wäre das System augenblicklich überlastet. Um diesem kognitiven Kollaps zu entgehen, hat die Evolution ein hocheffizientes Betriebssystem entwickelt: die Fähigkeit zur Kategorisierung. Indem das Gehirn neue Informationen blitzschnell mit bereits bekannten Mustern und mentalen Schablonen, sogenannten Schemata, abgleicht, schafft es Ordnung.
Betritt ein Individuum einen belebten Marktplatz in einer fremden Stadt, muss es nicht jede Person, jeden Stand und jedes Produkt von Grund auf neu analysieren. Das Gehirn kategorisiert automatisch: Hier sind Verkaufende, dort Kaufende, das ist Obst, das Handwerk. Diese grobe Einordnung erlaubt eine schnelle Orientierung und darauf aufbauend adäquates Handeln. Das System funktioniert, indem es Details generalisiert und Komplexität radikal reduziert. Eine Person mit einer bestimmten Uniform wird als „Polizist bzw. Polizistin“ kategorisiert, was sofort ein ganzes Bündel an assoziierten Informationen und Verhaltensweisen aktiviert: ansprechbar bei Gefahr, Autoritätsperson etc.
Diese kognitiven Abkürzungen sind der Grund, warum der Mensch sich in immer neuen Umgebungen zurechtfinden kann, ohne jedes Mal bei null anfangen zu müssen. Die Kehrseite dieser Effizienz ist die Tendenz zur Stereotypisierung, bei der die feinen Nuancen des Individuellen dem groben Raster der Kategorie zum Opfer fallen.
Freund oder Feind, Frucht oder Gift: Die evolutionären Wurzeln des Urteilens
Auf die dem Bewusstsein selten zugängliche Kategorisierung folgt unmittelbar der zweite, entscheidende Schritt: die Bewertung. Für die Vorfahren in der Savanne war diese Fähigkeit von existenzieller Bedeutung. Es reichte nicht aus, ein Rascheln im Gebüsch als „sich bewegendes Etwas“ zu kategorisieren. Vielmehr war eine blitzschnelle Bewertung überlebensnotwendig: Ist es ein harmloses Nage- oder ein lauerndes Raubtier? Diese Bewertung war selten ein rein rationaler Prozess, sondern eine zutiefst emotionale Reaktion, gesteuert von den ältesten Teilen des Gehirns wie dem limbischen System und insbesondere der Amygdala. Diese Hirnregion fungiert als eine Art Alarmsystem, das eingehende Reize mit einem emotionalen „Etikett“ versieht: „Gefahr heißt fliehen!“, „Nahrung heißt annähern!“, „Unbekannt heißt vorsichtig sein!“.
Dieser uralte Mechanismus ist auch heute noch aktiv. Zwar geht es eher selten um Leben und Tod, doch das Prinzip bleibt dasselbe. Ein neues Gericht wird nicht nur als „Nahrung“ kategorisiert, sondern sofort als „schmackhaft“ oder „ungenießbar“ bewertet. Eine politische Idee wird als „richtig“ oder „falsch“, eine Person nach dem ersten Händedruck als „sympathisch“ oder „unsympathisch“ eingestuft. Diese Bewertungen sind so etwas wie emotionale Leitplanken, die das Verhalten im Alltag steuern und dabei helfen, Entscheidungen zu treffen, wenn eine vollständige rationale Analyse zu lange dauern würde. Das sogenannte „Bauchgefühl“ ist im Grunde nichts anderes als das Echo dieser evolutionär geschulten, schnellen Bewertungsinstanz.
Meinung als soziales Band: Zugehörigkeit in einer komplexen Welt
Der Mensch ist als „Zoon politikon“, als soziales Lebewesen, auf die Gemeinschaft angewiesen. Innerhalb dieser Gemeinschaft ist nicht erst seit Bestehen der sozialen Medien die geäußerte Meinung, der öffentliche Kommentar, eine entscheidende soziale Währung. Das Teilen von Bewertungen und Urteilen dient nicht nur dem reinen Informationsaustausch, sondern erfüllt tiefere soziale Funktionen. Gemäß der Theorie der sozialen Identität definieren sich Menschen maßgeblich über die Gruppen, denen sie angehören (bzw. angehören möchten). Das Äußern einer Meinung ist ein deutliches Signal dieser Zugehörigkeit.
Wer die Ansichten seiner respektive ihrer Gruppe, sei es eine politische Partei, ein Sportverein oder eine Online-Community, teilt und nach außen vertritt, stärkt gleichzeitig die Position innerhalb dieser Gruppe und festigt das gemeinsame „Wir-Gefühl“. Gleichzeitig dient die geteilte Meinung der Abgrenzung von „den Anderen“, den Außengruppen. Diese Dynamik schafft Kohäsion und eine gemeinsame soziale Realität. Der Austausch von Kommentaren und sogar Tratsch funktioniert dabei als eine Art soziales Pflegeritual, bei dem Gruppenmitglieder ihre Normen und Werte abgleichen und sich gegenseitig bestätigen. Frau, Mann und Divers vergewissern sich gegenseitig der Korrektheit des eigenen Weltbildes und stärken die sozialen Bande. Wer eine von der Gruppe anerkannte Meinung vertritt, erhält dafür auch soziale Anerkennung; Wer abweicht, riskiert den Ausschuss und die Isolation.
Digitale Echoräume: Wie soziale Medien das Urteilen verändern
Die Architektur sozialer Medien hat dieses menschliche Grundbedürfnis nach Meinungsäußerung und sozialer Bestätigung schon in den Anfängen erkannt und zu ihrem Geschäftsmodell gemacht. Alle Plattformen sind darauf optimiert, Interaktionen in Form von Likes, Shares und Kommentaren zu provozieren. Jede dieser Interaktionen ist eine Mikro-Bewertung, die sofortige soziale Rückmeldung verspricht und das Belohnungszentrum im Gehirn aktiviert.
Gleichzeitig führen algorithmische Kuratierungssysteme dazu, dass Nutzende vornehmlich Inhalte sehen, die ihren bereits bestehenden Meinungen entsprechen. Es entstehen Echokammern und Filterblasen, in denen das eigene Weltbild permanent bestätigt und selten bis gar nicht herausgefordert und/oder in Frage gestellt wird. Das verstärkt bei vielen die Überzeugung von der Universalität und Richtigkeit der eigenen Meinung und verringert die Toleranz gegenüber abweichenden Ansichten, Meinungen oder Positionen. Die Anonymität und die physische Distanz im digitalen Raum senken zudem die Hemmschwelle für impulsive und immer häufiger auftretende extreme Einschätzungen, Urteile und Kommentare. Ein bspw. komplexer Sachverhalt wird auf in der Regel und im Durchschnitt 280 Zeichen reduziert, ein Mensch auf ein einziges Profilbild, und das Urteil fällt schnell, gnadenlos, hart und öffentlich.
Synthese: Mensch zwischen Instinkt, Reflexion und bewusster Handlung
Das ständige Kategorisieren, Bewerten und Kommentieren ist kein oberflächliches Phänomen, sondern das Resultat eines tiefgreifenden Zusammenspiels aus evolutionärem Erbe, sozialem Instinkt und kognitiver Notwendigkeit. Es ist ein effizienter, aber eben auch stark fehleranfälliger Mechanismus. Die kognitiven Abkürzungen, die dabei genommen werden, führen zu Vorurteilen, zu irrationalen emotionalen Bewertungen, und zudem kann der soziale Druck zu konformistischem Denken verleiten.
Ein vollständiges Ablegen dieses Verhaltens ist weder möglich noch wünschenswert, da es für die menschliche Handlungsfähigkeit fundamental ist. Der entscheidende Schritt liegt vielmehr darin, sich diese inneren und unbewussten Prozesse bewusst zu machen. Die Erkenntnis, dass das erste eigene Urteil immer das Produkt einer schnellen, unbewussten Schablone und nicht einer tiefen, rationalen Analyse ist, eröffnet die Möglichkeit zur Selbstreflexion. Diese Kompetenz, innezuhalten, die eigene erste Bewertung zu hinterfragen und die Komplexität hinter der einfachen Kategorie zu erkennen, macht den Unterschied zwischen einem reaktiven Urteil und einem bewussten, differenzierten Verständnis aus.
Genau hier liegt die zentrale Aufgabe der Jugend- und Erwachsenenbildung. Sie muss darauf abzielen, das Bewusstsein für diese Vorgänge zu schärfen, indem sie Medienkompetenz, kritisches Denken und vor allem die Kompetenz zur Selbstreflexion vermittelt. Damit baut sie die Brücke vom reaktiven Instinkt zur überlegten, bewussten Handlung. In einer immer lauter und meinungsgetriebenen Welt ist diese durch Bildung geförderte Metakognition, das Denken über das eigene Denken von unschätzbarem Wert.
Wenn Interesse und Bedarf bestehen, unterstützen wir dich gerne. Reden wir darüber! Unsere Angebote zu diesem Themenbereich:
- Lehrlingsbildung
- Train the Trainer:in
- Soft Skill Trainer:in
- Outdoorpädagogik
- Bildungsbike-Trainer:in
- Ausbildung Bildungsbiken
HINWEIS: Bei der Finalisierung des Beitrags haben die Autoren und Autorinnen ChatGPT 5, Gemini 2.5 Pro und Microsoft Word mit Copilot verwendet, um die sprachliche Formulierung zu prüfen und zu verbessern. Die inhaltliche Verantwortung liegt bei den Autor: innen.