
Banalisierung pädagogischer Theorien
Die trügerische Verlockung der Einfachheit
Autor: Manfred Hofferer & Team Bildungspartner Österreich, © BPÖ 2025
Wer sich mit Erwachsenenbildung näher beschäftigt, erkennt, dass dieses Feld reich an komplexen Theorien, Modellen und Konzepten ist, welche die besonderen Prozesse des Lernens im Erwachsenenalter erklären. Von der Andragogik nach Malcolm Knowles, welche die Autonomie und Erfahrung der Lernenden in den Vordergrund hebt und betont, über Jack Mezirow Theorie des transformativen Lernens bis hin zu David A. Kolbs Lernzyklus des Erfahrungslernens bieten diese Modelle einen essenziellen Orientierungsrahmen für die Gestaltung wirksamer Trainings, Seminare, Workshops und Weiterbildungen.
In der alltäglichen Vermittlungspraxis besteht jedoch eine konstante Tendenz, diese und viele andere Zugänge und Theorien zu simplifizieren und zu banalisieren. Der Druck, schnelle Lösungen für komplexe Herausforderungen wie Heterogenität, Inklusion oder Leistungsschwäche zu finden, begünstigt die Reduktion von tiefgreifenden Konzepten auf leicht verdauliche Schlagwörter und vermeintliche Patentrezepte. Diese Banalisierung ist keineswegs harmlos. Sie führt zu tiefgreifenden Missverständnissen, ineffektiven Praktiken und schadet nicht selten den Bildungsbiografien der Lernenden nachhaltig.
Die systematische Verzerrung wissenschaftlicher Erkenntnisse untergräbt die Professionalität pädagogischer Fachkräfte und behindert eine evidenzbasierte Weiterentwicklung des gesamten Bildungssystems.
Mechanismen der Verzerrung: Vom wissenschaftlichen Modell zum pädagogischen Mythos
Die Transformation einer differenzierten pädagogischen Theorie in eine simplifizierte Handlungsanweisung folgt oft wiederkehrenden und gleichen Mustern. Das Verständnis dieser Mechanismen ist entscheidend, um die Ursachen für Fehlentwicklungen in der Praxis zu erkennen.
-
Reduktion auf Slogans: Komplexe Theorien werden auf eingängige, marketingtaugliche Phrasen reduziert, die den Kern entstellen. So wird bspw. die Theorie des "Growth Mindset"
(Wachstumsdenken) von Carol Dweck häufig auf den Slogan "Lobe die Anstrengung, nicht das Ergebnis" verkürzt. Diese Vereinfachung ignoriert die Notwendigkeit, den Lernenden konkrete
Wissensgrundlagen und Strategien zur Verbesserung zu vermitteln und den Lernprozess differenziert zu reflektieren. Ein pauschales Lob für bloße Anstrengung ohne sichtbaren Fortschritt ist in
Wahrheit zynisch und wirkt eher demotivierend. Der Slogan wird zum leeren Ritual, entkoppelt von der eigentlichen Intention der Theorie: der Förderung von Resilienz und effektiven Lern-,
Veränderungs- und Entwicklungsstrategien.
-
Methodenfetischismus: Einzelne Methoden oder Materialien, Spiele und Übungen werden aus ihrem theoretischen Gesamtkontext gerissen und als universelle Heilsversprechen angepriesen. In
vielen Teilen der Jugend- und Erwachsenenbildung etwa wird das didaktische Material regelmäßig fetischisiert. Die bloße Anschaffung und Anwendung von
Methodensammlungen, Seminar-Tools und Aktivitätsbüchern garantiert keinen erfolgreichen Lernprozess. Ohne ein tiefes Verständnis für die Prinzipien der Erwachsenenbildung, die Gestaltung
einer lernförderlichen Umgebung, die sensible Wahrnehmung der Teilnehmenden und die Berücksichtigung ihrer individuellen Lernprozesse verkommt das eingesetzte Material zum reinen Selbstzweck.
Die Methode wird dann wichtiger als die Lernenden und ihre tatsächlichen Bedürfnisse.
- Falsche Dichotomien: Komplexe pädagogische Fragen werden in unzulässige Entweder-oder-Alternativen gepresst. Das prominenteste Beispiel ist die Gegenüberstellung von "Frontalunterricht" (oft gleichgesetzt mit direkter Instruktion) und "offenem Unterricht" (oft gleichgesetzt mit konstruktivistischem Lernen). Diese Polarisierung ist fachlich nicht haltbar. Effektiver Unterricht zeichnet sich durch einen methodischen Pluralismus aus, der Phasen der direkten Instruktion, des Übens, der kooperativen Arbeit und der eigenständigen Entdeckung intelligent miteinander verknüpft. Die ideologische Fixierung auf eine der beiden Seiten verhindert eine flexible, am Lerngegenstand und den Lernenden orientierte Seminar-, Trainings- und Workshopgestaltung.
Folgen für die Lernenden: Zwischen Überforderung und Stagnation
Die direkten Leidtragenden von verzerrten pädagogischen Konzepten sind die Lernenden. Eine fehlgeleitete Interpretation des Konstruktivismus, die davon ausgeht, Lernende könnten sich komplexes Wissen ohne jegliche Anleitung, Begleitung oder Struktur selbstständig aneignen, führt eher zu kognitiver Überforderung als zu sonst etwas. Besonders Lernende aus bildungsferneren Milieus oder mit geringerem Vorwissen oder mit schwierigen Bildungsbiografien werden in solchen unstrukturierten Szenarien benachteiligt, da ihnen die notwendigen Strategien zur selbstständigen Wissensaneignung fehlen. Die Schere der Bildungsungleichheit öffnet sich weiter, anstatt sich zu schließen.
Umgekehrt kann eine rigide und missverstandene Anwendung von selbstgesteuerten Lernmethoden genauso zu Stagnation führen. Wenn „Teilnehmerorientierung“ oder „Autonomie“ als Laissez-faire interpretiert wird und die lehrende Person darauf verzichtet, Impulse zu geben, neue Herausforderungen anzubieten oder auf Lernplateaus zu reagieren, verharren Lernende in ihren bestehenden, bekannten Denk- und Handlungsmustern. Die entscheidende Rolle der Lehrenden als Moderierende und Lernbegleitende, die den Lernrahmen dynamisch an die Vorkenntnisse, -erfahrungen und Bedürfnisse der Teilnehmenden anpassen, wird dabei ignoriert und ausgeschlossen.
Der weitverbreitete, aber mittlerweile neurowissenschaftlich widerlegte Mythos der Lerntypen (z. B. visuell, auditiv, kinästhetisch) führt ebenfalls zu negativen Konsequenzen. Er verleitet Lehrende ohne entsprechende fachliche Vertiefung dazu, Lerninhalte nur auf einem Kanal anzubieten, obwohl multimodale, also mehrere Sinne ansprechende, Lernumgebungen nachweislich am effektivsten sind. Zudem führt die Etikettierung von Lernenden („Ich bin halt ein visueller Typ“) zu einem starren Selbstbild, das die Entwicklung flexibler Lernstrategien behindert und nicht selten als Entschuldigung für Misserfolge in anderen Bereichen herangezogen wird.
Belastungen für Lehrende: Professionalität unter Druck
Auf der anderen Seite haben Simplifizierungen auch für pädagogische Fachkräfte Folgen. Sie stehen bspw. unter dem Druck von Auftraggebenden, Lernenden oder der Bildungspolitik, die neueste (sprichwörtlich) „pädagogische Sau“ durchs Dorf treiben zu müssen.
Diese Erwartungshaltung führt zu Überforderung und Frustration. Lehrende sollen Methoden implementieren, deren theoretische Basis sie kaum durchdrungen haben und deren Wirksamkeit in der heterogenen Realität ihres Alltags fraglich bis hin zu nicht wirksam ist. Scheitert die Methode, wird die Schuld in der Folge nicht selten bei den Lehrenden gesucht, was deren professionelles Selbstverständnis untergräbt.
Dieser Umstand fördert eine zunehmende De-Professionalisierung. An die Stelle professioneller pädagogischer Haltung, methodisch-didaktischer Planungskompetenz und fachlicher Urteilskraft, die auf einem breiten Repertoire an Wissen, Erfahrung und Methoden basieren, tritt das Befolgen von Rezepten. „Teacher-proof“ (Curricula, welche die Lehrenden nur noch als Verwaltungsorgane benötigen), die immer gleichen Lehrmaterialien und starre Ablaufprogramme, die auf simplifizierten Theorien beruhen, schränken die pädagogische Autonomie maßgeblich zum Nachteil der Lernqualität ein. Die fachliche Kompetenz, die Lehr- und Lerneinheiten flexibel an die Bedürfnisse der spezifischen Lerngruppe anzupassen, geht verloren.
Zudem führt das ständige Aufpoppen von schnelllebigen Trends zu Verunsicherung. Anstatt sich auf bewährte, evidenzbasierte Praktiken verlassen zu können, fühlen sich viele Lehrende gezwungen, ständig neuen Moden hinterherzulaufen, was wertvolle Zeit und Energie kostet, die in der Folge für die eigentliche pädagogische Arbeit fehlt.
Systemische Auswirkungen: Ineffizienz, Ungerechtigkeit und Innovationsstau
Auf der Ebene des gesamten Bildungssystems richten verzerrte Theorien langfristigen Schaden an.
Die Verbreitung andragogischer (die Lehre vom Lernen Erwachsener) und pädagogischer Mythen in der Jugend- und Erwachsenenbildung hat eine massive Verschwendung von Ressourcen zur Folge. Öffentliche und private Gelder fließen in Fortbildungen, Trainings und Programme, deren Wirksamkeit nicht belegt ist. Diese Mittel fehlen dann an anderer Stelle, beispielsweise für die gezielte Förderung bildungsbenachteiligter Zielgruppen, für eine bessere Förderung der professionellen Bildungsanbietenden und/oder für die Implementierung nachweislich wirksamer Bildungsangebote.
Blockade von Innovation durch Trends
Gleichzeitig blockiert die zunehmende Fixierung auf oberflächliche Moden und Bildungstrends eine echte, nachhaltige Innovation in der Bildungslandschaft. Anstatt grundlegende Fragen der Themenaufbereitung, der Programmplanung, der Vermittlung und Kompetenzmessung oder der Professionalisierung von Lehrenden auf Basis solider wissenschaftlicher Erkenntnisse zu diskutieren, erschöpfen sich die Debatten in Scheingefechten über einzelne Methoden, Techniken und Verfahren oder aktuell digitale Tools. Eine tiefgreifende, theoriegeleitete Qualitätsentwicklung der Bildungseinrichtungen wird durch einen derartigen kurzfristigen Aktionismus ersetzt und aufgelöst.
Verfestigung von Bildungsungleichheit
Schlussendlich tragen simplifizierte Bildungs- und Vermittlungsansätze zur Verfestigung von Ungleichheit bei. Ein "One-size-fits-all"-Ansatz, der aus populären, aber unzureichend fundierten Vorstellungen und Modellen abgeleitet wird, ignoriert die unterschiedlichen kulturellen, sozialen, sprachlichen und individuellen Voraussetzungen der Teilnehmenden. Anstatt durch differenzierte und adaptive Lernangebote für mehr Chancengerechtigkeit zu sorgen, werden die Lernenden systematisch benachteiligt, die nicht den impliziten Normen der vereinfachten Modelle entsprechen. Das betrifft insbesondere Menschen mit geringerer formaler Bildung, nicht-deutscher Muttersprache oder individuellen Lernschwierigkeiten.
Fazit
Der Weg zu einer Verbesserung von Bildung und Pädagogik führt nicht über die Banalisierung komplexer Sachverhalte und darauf reagierender Theorien. Er erfordert im Gegenteil eine Stärkung der Professionalität aller beteiligten Akteurinnen und Akteure. Das beinhaltet eine fundierte, wissenschaftsorientierte Aus- und Weiterbildung für Lehrende, die sie in die Lage versetzt, Theorien, Modelle, Konzepte und Strategien kritisch zu reflektieren und für ihre Praxis zu adaptieren. Es erfordert gleichzeitig eine Bildungspolitik, die auf Evidenz statt auf Ideologie und kurzfristige Trends setzt, und eine breite öffentliche Debatte, welche die Komplexität von Bildungsprozessen anerkennt, anstatt nach simplen und wohlgefälligen, der Zeit entsprechenden Antworten zu verlangen. Nur so kann sichergestellt werden, dass pädagogische Theorien ihr Potenzial entfalten: als Werkzeuge zur Schaffung gerechterer und effektiverer Lernwelten.
Wenn Interesse und Bedarf bestehen, unterstützen wir dich gerne. Reden wir darüber! Unsere Angebote zu diesem Themenbereich:
- Lehrlingsbildung
- Train the Trainer:in
- Soft Skill Trainer:in
- Outdoorpädagogik
- Bildungsbike-Trainer:in
- Ausbildung Bildungsbiken
HINWEIS: Bei der Finalisierung des Beitrags haben die Autoren und Autorinnen ChatGPT 5, Gemini 2.5 Pro und Microsoft Word mit Copilot verwendet, um die sprachliche Formulierung zu prüfen und zu verbessern. Die inhaltliche Verantwortung liegt bei den Autor: innen.