Seminare leiten

Die echte Herausforderung

Die Dekonstruktion eines Mythos

Die Fachliteratur zur Erwachsenenbildung, insbesondere im Bereich der Train-the-Trainer: innen-Ausbildungen, widmet einen beträchtlichen Teil ihrer Aufmerksamkeit einem spezifischen Phänomen: dem Management "schwieriger" Teilnehmender. Ganze Module befassen sich mit der Typologisierung von "Störenden", vom Besserwissenden über die Vielredenden bis hin zu den aggressiven Querulantinnen und Querulanten. Die implizite Botschaft ist, dass die Kernkompetenz einer guten Seminarleitung in der Deeskalation und der Steuerung solche negativer gruppendynamischer Prozesse liege.

 

Aber, diese Fokussierung, obgleich vielleicht gut gemeint, erzeugt ein Zerr- und Trugbild. Sie lenkt von den eigentlichen, weitaus komplexeren Herausforderungen der Seminarleitung ab. Die empirische Beobachtung in der Praxis der Erwachsenenbildung zeigt ein diametral anderes Bild: Die überwältigende Mehrheit der Teilnehmenden, verhält sich in Seminarsituationen konstruktiv, höflich und ist grundsätzlich lernwillig. Negative, den Lernprozess aktiv sabotierende Gruppendynamiken sind die absolute Ausnahme und nicht die Regel.

 

Das Trugbild der "Störenden" ist gefährlich, da es Seminarleitende auf einen reaktiven, defizitorientierten Modus konditioniert. Es suggeriert, die Abwesenheit von Störung sei gleichbedeutend mit Lernerfolg. Genau das Gegenteil ist der Fall. Die eigentliche Arbeit beginnt erst, wenn die Gruppe "ordentlich" ist. Eine "ordentliche Gruppe" ist gekennzeichnet durch:

  • Höflichkeit: Die Teilnehmenden sind freundlich und respektvoll.
  • Regelkonformität: Sie kommen pünktlich, halten sich an Pausenzeiten und folgen den Anweisungen.
  • Passive Konstruktivität: Sie protestieren nicht, führen keine Nebengespräche und unterbrechen die Seminarleitung nicht.
  • Abwesenheit von Konflikt: Es gibt keine offensichtlichen Streitereien oder negative Dynamiken.

Die wahren Herausforderungen in der Praxis sind subtiler, kognitiver und didaktischer Natur. Sie liegen nicht in der Deeskalation, sondern in der Aktivierung, der Binnendifferenzierung sowie der Sicherstellung von Relevanz.

 

Das Trugbild der "Störenden" als didaktische Vereinfachung

Warum hält sich dieser Mythos so hartnäckig? Weil die Konzentration auf Verhaltensmanagement eine komplexe pädagogische Aufgabe, die Vermittlung von Inhalten an heterogene Adressaten, auf eine scheinbar einfachere soziale Aufgabe reduziert: die Aufrechterhaltung von Ordnung. Es ist einfacher, einer Seminarleitung beizubringen, wie sie jemanden der viel redet unterbricht, als ihr beizubringen, wie sie den Wissensstand von 15 unterschiedlichen Personen gleichzeitig diagnostiziert und bedient.

 

Selbst das, was häufig als "Störung" interpretiert wird, ist bei näherer Betrachtung oft nur ein Symptom einer nicht adressierten didaktischen Herausforderung. Die sogenannten "Besserwissenden" sind nicht selten die "stillen Expertinnen und Experten", die sich langweilen und versuchen, auf dem einzigen ihnen möglichen Niveau (ihrem eigenen) einen Beitrag zu leisten. Die "Vielredenden" kompensiert vielleicht die peinliche Stille einer passiven Gruppe.

 

Wird der Fokus von diesem Trugbild gelöst, werden die wahren Königsdisziplinen der Seminarleitung sichtbar. Diese manifestieren sich primär in drei Bereichen, die erst in einer "konstruktiven" Gruppe ihre volle Komplexität entfalten.

 

1. Die stille Herausforderung: Management der konstruktiven Heterogenität

Die größte Herausforderung in der Erwachsenenbildung ist die enorme Heterogenität der Lernenden. In einer "ordentlichen" Gruppe ist diese Heterogenität nicht verhaltensbezogen, sondern kognitiv und erfahrungsbasiert. Die Schwierigkeit besteht darin, dass diese Unterschiede in weiten Teilen unsichtbar bleiben, solange die Gruppe höflich schweigt.

 

In einem typischen Seminar sitzen 15 konstruktive Teilnehmende, deren Lernbedürfnisse radikal divergieren:

  • Die "stillen Expertinnen und Experten": Diese Personen verfügen über tiefes Vorwissen, möglicherweise sogar mehr Praxiserfahrung als die Seminarleitung selbst. Sie verhalten sich konstruktiv, stellen keine Störfragen, schalten aber mental ab, sobald Grundlagen wiederholt werden. Der Lernerfolg ist null, das Potenzial für die Gruppe (z.B. durch Peer-Teaching) bleibt ungenutzt. Die Herausforderung ist "stille Langeweile".
  • Die "stillen Anfänger und Anfängerinnen": Diese Personen sind ebenfalls konstruktiv, haben aber Wissenslücken. Sie trauen sich jedoch nicht, eine "dumme" Frage zu stellen, weil der Rest der Gruppe so kompetent wirkt oder die "Expertinnen und Experten" bereits komplexe Detailfragen diskutieren. Diese Personen nicken höflich und verstehen nichts. Der Lernerfolg ist null. Die Herausforderung ist "höfliche Verwirrung".
  • Die "Anwendungssuchenden": Diese Personen versteht die präsentierte Theorie, können aber die Transferbrücke zum eigenen, spezifischen Berufsalltag nicht schlagen. Die Beispiele der Seminarleitung passen nicht exakt. Wenn keine Gelegenheit zur Anpassung geboten wird, bleibt das Wissen abstrakt und praxisfern.

Die Herausforderung für die Seminarleitung liegt hier nicht im Management von Verhalten, sondern im Management von Wissens- und Erfahrungsständen. Die erforderliche Kompetenz ist die didaktische Binnendifferenzierung. Es müssen Lernangebote geschaffen werden, die unterschiedliche Einstiegspunkte und Vertiefungsgrade zulassen. Anstatt eines linearen Vortrags sind Methoden gefragt, die Expertinnen und Experten fordern (z.B. durch komplexe Fallstudien, Lehraufträge an Kleingruppen) und gleichzeitig Anfängerinnen und Anfängern einen geschützten Raum für Grundlagen bieten (z.B. durch optionale Module, Tandem-Arbeit).

 

2. Die Herausforderung der "höflichen Passivität"

Die Kehrseite einer "ordentlichen" Gruppe ist oft eine ebenso lernfeindliche "höfliche Passivität". Eine Gruppe, die keine negative Dynamik zeigt, entwickelt nicht selten eine andere Dynamik: das konstruktive Schweigen. Die Teilnehmenden sind höflich, hören zu, machen Notizen und stellen keine kritischen Fragen. Auf die rhetorische Frage der Seminarleitung "Alles verstanden?" wird kollektiv genickt.

 

Dieses Verhalten ist zwar "ordentlich", aber ein massiver Lernhemmer. Passive Konsumhaltung (das "Nürnberger-Trichter-Modell") ist die ineffizienteste Form des Lernens. Erwachsene müssen Inhalte verarbeiten, in Zweifel ziehen, mit eigenen Erfahrungen abgleichen und verbalisieren. Höfliches Nicken ist kein Indikator für Verständnis.

 

Die Seminarleitung steht hier vor der Herausforderung, diese passive Konsumhaltung zu durchbrechen, ohne die konstruktive Atmosphäre zu beschädigen. Die erforderliche Kompetenz ist die methodische Aktivierung. Es geht darum, Lernprozesse sichtbar zu machen.

 

Methoden der Aktivierung zielen darauf ab, Teilnehmende aus der rezeptiven Haltung in eine produktive zu bringen. Beispiele dafür sind:

  • Sichtbarmachung: Statt "Wer hat eine Frage?" die Aufforderung: "Jede Person notiert auf einer Karte die eine Sache, die am unklarsten geblieben ist."
  • Strukturierte Kollaboration (Think-Pair-Share): Eine komplexe Frage wird gestellt. 1. Alle denken individuell nach. 2. Zwei Personen tauschen sich aus. 3. Erst dann wird im Plenum diskutiert. Das verhindert, dass die schnellsten "Experten bzw. Expertinnen" die Diskussion dominieren, und gibt den "Anfängerinnen und Anfängern" Zeit zur Formulierung.
  • Provokation: Die Seminarleitung stellt eine bewusst kontroverse These auf, um eine Debatte anzustoßen und die Teilnehmenden zur Positionierung zu zwingen.

Das Ziel ist nicht Unruhe, sondern kognitive Dissonanz und Engagement. Es geht darum, echtes Feedback (Verständnis oder Nicht-Verständnis) zu provozieren, statt sich auf die Annahme von Verständnis zu verlassen.

 

3. Das "Fahrplan-Dilemma": Beweglichkeit statt Agenda

Eine "ordentliche" Gruppe neigt dazu, dem vorgegebenen Seminarplan diszipliniert zu folgen. Sie akzeptiert die Agenda und arbeitet die Punkte ab.

 

Die eigentliche Schwierigkeit besteht darin, als Seminarleitung zu erkennen, ob dieser Fahrplan für diese spezifische Gruppe überhaupt relevant ist. Gar nicht selten stellt sich (sofern Aktivierung stattfindet und Heterogenität erkannt wird) nach zwei Stunden heraus, dass die wahren Bedürfnisse der Teilnehmenden leicht neben dem geplanten Inhalt liegen.

Hier entsteht das "Fahrplan-Dilemma":

  • Option A: Die Seminarleitung hält sich starr an den Plan, den alle "ordentlich" akzeptieren. Das Seminar wird pünktlich beendet, aber im Feedback als "zwar nett, aber nicht nützlich für meine Praxis" bewertet.
  • Option B: Die Seminarleitung weicht vom Plan ab, um den tatsächlichen, oft erst im Prozess emergenten Bedarf der Gruppe zu decken.

Die erforderliche Kompetenz ist die inhaltliche Wendigkeit (oder "Content Sovereignty"). Das setzt jedoch voraus, dass die Seminarleitung nicht nur ihr Skript beherrscht, sondern ihr Fachgebiet so tief durchdrungen hat, dass sie Inhalte flexibel neu strukturieren, priorisieren und ad hoc vermitteln kann. Diese Anpassungskompetenz ist die Voraussetzung für den entscheidenden Faktor in der Erwachsenenbildung: den Praxistransfer.

 

Fazit

Wird das Trugbild der "Störenden" beiseitegelegt, wird der Blick frei für die wahren Königsdisziplinen der Seminarleitung. Die Herausforderung liegt nicht im Umgang mit den wenigen "Störenden", sondern im didaktisch anspruchsvollen Management dem konstruktiven Rest der Gruppe. Die Professionalität einer Seminarleitung zeigt sich nicht in der Beruhigung und/oder Deeskalation, sondern in der Kompetenz zur:

  1. Didaktischen Binnendifferenzierung (dem Management von Wissensheterogenität statt Verhaltensheterogenität).
  2. Methodischen Aktivierung (der Überwindung von passiver Höflichkeit zugunsten sichtbarer Lernprozesse).
  3. Inhaltlichen Beweglichkeit (der Sicherstellung von Relevanz und Praxistransfer jenseits der starren Agenda).

Fünf Tipps aus der Praxis

Wie können "ordentliche" (höflich-passive) Gruppen aktiviert und der Lernprozess angeregt werden? Das Ziel ist, die Teilnehmenden aus der Konsumhaltung (zuhören, nicken) in eine aktive Verarbeitung (denken, sprechen, anwenden) zu bringen.

 

1. Think-Pair-Share (Denken-Austauschen-Vorstellen)

Das ist die sicherste Methode, um Schweigen zu brechen. Statt eine Frage in die (schweigende) Runde zu stellen, nutzen Sie drei Stufen:

  • Think (Denken): Die Seminarleitung stellt eine spezifische Frage (z.B. "Was ist für Sie der Kern des Modells X?"). Jede Person denkt allein nach und macht sich Notizen (ca. 1-2 Minuten).
  • Pair (Austauschen): Die Teilnehmenden drehen sich zu einer Nachbarperson um und tauschen ihre Überlegungen aus.
  • Share (Vorstellen): Erst jetzt fragt die Seminarleitung in die Runde: "Was waren interessante Punkte in Ihren Zweiergesprächen?"

Warum es funktioniert: Der "Paar"-Schritt senkt die Hemmschwelle dramatisch. Die Teilnehmenden sprechen erst in einem geschützten Zweier-Rahmen. Sie validieren ihre Ideen gegenseitig. Im Plenum (Share) sprechen sie oft in der "Wir"-Form ("Wir haben diskutiert..."), was sicherer ist als die eigene Meinung preiszugeben.

 

2. Die "Exit-Ticket" / 1-Minute-Paper Methode

Diese Methode zielt darauf ab, echtes, anonymes Feedback zum Lernstand zu erhalten, anstatt auf die (unzuverlässige) Frage "Alles verstanden?" zu vertrauen.

Kurz vor einer Pause oder am Ende eines Blocks bittet die Seminarleitung alle, anonym auf einen Zettel (oder digital) zwei Dinge zu notieren:

  1. Was war der wichtigste Punkt (oder die "Haupt-Erkenntnis") des letzten Abschnitts?
  2. Was ist die eine Frage, die für Sie noch offen (oder am unklarsten) geblieben ist?

Warum es funktioniert: Es ist anonym. Die "stillen Anfängerinnen und Anfänger" trauen sich, ihre Verständnisfrage zu stellen, ohne sich zu exponieren. Die Seminarleitung erhält echte Daten darüber, wo die Gruppe steht, und kann nach der Pause gezielt die unklaren Punkte aufgreifen (z.B. "Es kamen mehrfach Fragen zu Thema Y...").

 

3. Strukturierte Fall-Sammlung (Praxistransfer)

Passive Gruppen warten häufig darauf, dass die Seminarleitung das "perfekte" Praxisbeispiel liefert, das auf sie passt. Besser ist es, die Fälle der Teilnehmenden zur Grundlage zu machen. Statt zu fragen: "Wer hat ein Beispiel?", nutzen Sie eine strukturierte Abfrage: "Bitte nehmen Sie sich 5 Minuten Zeit und notieren Sie eine konkrete Situation aus Ihrem Arbeitsalltag, in der [Thema des Seminars] eine Rolle gespielt hat oder hätte spielen können. Wir werden 3-4 dieser Fälle als Grundlage für die nächste Aufgabe verwenden."

 

Warum es funktioniert: Die Teilnehmenden müssen ihr eigenes Arbeitsumfeld reflektieren (erster Transferschritt). Die Seminarleitung kann die Relevanz der Inhalte direkt an den echten Problemen der Gruppe demonstrieren, anstatt abstrakte Theorie und Problemumfelder zu vermitteln.

 

4. Skalenabfrage (Heterogenität sichtbar machen)

Um die (verborgene) Heterogenität im Vorwissen sichtbar zu machen, ohne jemanden bloßzustellen, eignen sich Skalenabfragen.

Die Seminarleitung bittet um ein Handzeichen (oder Aufstehen) zu einer Skala von 1 bis 5, z.B.: "Wie intensiv haben Sie sich bereits mit [Thema X] beschäftigt? 1 = 'Noch nie gehört' bis 5 = 'Ich könnte es selbst erklären'."

 

Warum es funktioniert: Das ist ein schneller, non-verbaler Check-in. Die Seminarleitung sieht sofort, ob die Gruppe aus Expertinnen und Experten, Anfängerinnen und Anfängern oder einer Mischung besteht. Sie kann dann direkt darauf reagieren, z.B. durch Binnendifferenzierung (Expertinnen und Experten bekommen eine Zusatzaufgabe, während mit den anderen die Grundlagen erarbeitet werden).

 

5. Das "Lehr-Duett" (Teach-Back)

Diese Methode bricht die passive Konsumhaltung am radikalsten, indem sie die Verantwortung für den Inhalt an die Teilnehmenden übergibt.

Die Gruppe wird in Zweierteams (oder kleine Gruppen) aufgeteilt. Jedes Team erhält einen kleinen, unterschiedlichen Teil des Inhalts (z.B. einen kurzen Text, ein Modell, einen Aspekt).

  • Phase 1: Die Teams erarbeiten sich "ihren" Inhalt mit dem klaren Auftrag: "Bereiten Sie das so vor, dass Sie es gleich einem anderen Team erklären können."
  • Phase 2: Die Teams werden neu gemischt (oder zwei Teams treffen sich), und die Teilnehmenden erklären sich gegenseitig ihre Inhalte.

Warum es funktioniert: Menschen lernen leichter und tiefer, wenn sie selbst lehren. Der Modus wechselt von "Ich höre zu" zu "Ich muss das gleich erklären können". Die Teilnehmenden müssen den Stoff aktiv durchdringen, strukturieren und formulieren.

 

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HINWEIS: Für die sprachliche Glättung und stilistische Vereinfachung dieses Beitrags wurden KI-basierte Tools (ChatGPT 5, Gemini 2.5 Pro, Copilot) unterstützend eingesetzt. Alle inhaltlichen Aussagen und Schlussfolgerungen wurden von dem Autor ausgewählt, geprüft und verantwortet. Die KI hatte keine Rolle bei der inhaltlichen Generierung oder Bewertung der Forschungslage.


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