
Wohin geht die Bildung?
Bildung in Zeiten ständiger Verfügbarkeit
Autor Manfred Hofferer & Team Bildungspartner Österreich, © BPÖ 2025
Noch nie war Wissen so leicht erreich- und verfügbar wie heute. Mit einem Klick lassen sich Definitionen, Anleitungen, Modelle und Fachbegriffe abrufen. Videos erklären komplizierte Inhalte, Algorithmen schlagen weiterführendes Material vor. Dennoch bleibt bei vielen das Gefühl: Irgendetwas fehlt. Der Zugriff auf Wissen ersetzt nicht das Verstehen von Bildung. Denn Lehren und Lernen folgen nicht der Logik technischer Informationsverarbeitung, sondern menschlichen Prinzipien, die aus unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen erkannt und verstanden werden müssen.
Wer Menschen bildet – in Beruf oder Alltag –, braucht ein Fundament, das über bloße Inhalte hinausgeht. Dieses Fundament liegt in der Verbindung von Pädagogik, Psychologie, Soziologie und Neurowissenschaft.
Pädagogik: Gestaltung von Lernprozessen – nicht nur Wissensvermittlung
Pädagogik beschreibt nicht nur, was man lehrt, sondern auch, wie, warum und in welchem Kontext Lernangebote gestaltet werden. Zentral ist die Erkenntnis: Lernen ist kein einseitiger Übertrag von Wissen, sondern ein Prozess, der Beziehung und Bezogenheit, Struktur und Anschlussfähigkeit verlangt. Besonders in der Jugend- und Erwachsenenbildung sind Fragen entscheidend wie: Was bringt die lernende Person mit? Welche Ziele sind für die Person relevant und realistisch? Welche Angebote und Vorgehensweisen fördern aktives Arbeiten und Verstehen?
Ein Beispiel: In einem Kommunikationstraining für Berufseinsteigende genügt es nicht, das „Sender-Empfänger-Modell“ zu erklären. Nein, erst über konkrete Aufgaben, Introspektions- und Reflexionsphasen sowie den Austausch in Kleingruppen wird aus Theorie eine erlebbare Fertigkeit und in der Folge, wenn immer wieder angewandt, eine Kompetenz. Pädagogisch zu handeln bedeutet, Lernsettings zu entwickeln, die Orientierung und Struktur geben bei der gleichzeitigen Möglichkeit der persönlichen Einbringung und Beteiligung sowie der Förderung zunehmender Selbstständigkeit und Selbstwirksamkeit.
Psychologie: Lernen ist individuell, emotional und häufig unvorhersehbar
Weithin gesicherte psychologische Erkenntnisse verdeutlichen, dass Lernprozesse eng mit lebensgeschichtlichen und situativen Bedingungen, Motivlagen, Motivation, Emotion und Wahrnehmung verbunden sind. Es geht beim Lernen und Aneignen nicht allein um den Verstand. Vielmehr entscheidend ist, wie ein Thema erlebt und aufgefasst wird, ob es als bedeutsam empfunden wird und ob und wie es an vorhandene Erfahrungs- und Wissensstrukturen andocken kann.
Die Arbeitsgedächtnisforschung zeigt bspw. schon lange deutlich, dass neue Informationen wiederholt, mit Vorwissen verknüpft und in Ruhephasen verarbeitet werden müssen. Ein Umstand, der sich nicht wegleugnen lässt. Kognitive Überlastung blockiert. Ebenso beeinflussen Selbstbild, Lernbiografie und Stresserleben in der Lernsituation die Aufnahme- und Verarbeitungskapazität.
Ein praktischer Bezug: In einem Seminar zur Stressbewältigung reagieren Teilnehmende unterschiedlich – während eine Person Inhalte sofort versteht und umsetzen kann, braucht eine andere mehr Feedback, Introspektions- und Reflexionszeit oder zusätzliche konkrete Inhalte und Hilfestellungen, um zum selben Ergebnis wie andere zu kommen. Psychologisch informierte Lehrpersonen erkennen und berücksichtigen solche Unterschiede, bieten passende Unterstützung und achten vor allem auf die innere Ansprech-, Verfüg- und Belastbarkeit der Lernenden.
Soziologie: Bildung findet nie im luftleeren Raum statt
Lernen realisiert sich immer (direkt oder indirekt) eingebettet in soziale Strukturen. Geschlecht, Herkunft, Milieu und Bildungshintergrund wirken auf das Selbstbild, die Zugangschancen und die Erwartungen an Bildung. Soziologische Perspektiven zeigen, dass Bildungsprozesse nicht neutral ablaufen, sondern von einer ganzen Reihe von äußeren Bedingungen mitbestimmt werden.
Beispiel: In einer Fortbildung für Auszubildende im sozialen Bereich kann es große Unterschiede in der Ansprechbarkeit, der Ausdrucks- und Kommunikationsweise, der Gruppenbeteiligung oder Themenwahl geben. Wer aus einem bildungsnahen Umfeld stammt, bringt mehr Routinen im Umgang mit abstrakten Konzepten mit. Wer dies nicht erlebt und gelernt hat, braucht zusätzliche Unterstützungs- und Vermittlungsstrategien und Inhalte. Hier ist vor allem die didaktische Flexibilität der Lehrenden gefragt – etwa durch das Angebot unterschiedlicher inhaltlich komplexer Inhalte, wechselnde Sozialformen, klare und erfüllbare Aufgabenstellungen wie auch alltagsnahe Beispiele und Übungsszenarien.
Gleichzeitig muss immer mitbedacht werden, dass Bildung zu jeder Zeit ein Ort sein muss, an dem soziale Ungleichheiten aus der Vergangenheit nicht fortgesetzt, sondern durch entsprechend offene Zugänge bearbeitet und verändert werden. Das gelingt nur, wenn Lehrende sich ihrer sich ihrer soziologischen Verantwortung bewusst sind
Neurowissenschaft: Lernen ist Veränderung – aber nicht auf Knopfdruck
Lernen verändert das Gehirn. Eine Vielzahl von neurowissenschaftlichen Studien belegt, dass durch Wiederholung, Anwendung und entsprechendes Bedeutungserleben bestehende neuronale Netzwerke verstärkt und neue neuronale Netzwerke entstehen. Doch diese Veränderung braucht Zeit, Wiederholung und oft auch Irritation. Reines Wiederholen reicht nicht – Lernen wird erst dann nachhaltig, wenn genügend Zeit zur Verfügung steht, neue Inhalte mit Bestehendem zu verbinden, wenn dabei aktives Erleben eine Rolle spielt, Anwendung gegeben ist und wenn passende Reflexionen genutzt werden.
Beispiel aus der Praxis: In einem Bewerbungstraining ist es wenig wirksam, wenn Teilnehmende lediglich Formulierungen auswendig lernen. Effektiver ist es, wenn in realitätsnahen Aufgaben – etwa simulierten Vorstellungsgesprächen – Handlungsabläufe erprobt und anschließend gemeinsam ausgewertet werden. Erst so wird aus abstrakter Information zunehmend gelebtes Können.
Neurowissenschaftlich informierte Bildungsarbeit nutzt u. v. a. diesen Mechanismus. Sie erkennt an, dass Menschen unterschiedlich schnell und auf unterschiedlichen Wegen lernen. Was zählt, ist nicht die Methode an sich, sondern ihre Passung zum Menschen und zum aktuellen Kontext.
Was das für heutige Bildung bedeutet
In einer Welt, in der Inhalte inflationär verfügbar sind, liegt der Wert von guter Bildung nicht im Was, sondern im Wie und Warum. Wer Lernprozesse gestalten möchte – sei es in Kursen, Workshops, Schulungen oder Trainings –, muss verstehen, dass Lernen immer subjektiv, situativ und sozial gebunden ist. Es reicht nicht, Wissen zu haben. Entscheidend ist, dieses Wissen didaktisch wirksam, psychologisch fundiert, sozial sensibel und neurobiologisch klug einzusetzen.
Dabei verändert sich die Rolle von Lehrenden. Sie sind nicht mehr bloß Wissensvermittelnde, sondern Lernentwicklungs- und Prozessbegleitende. Sie strukturieren (innere und äußere) Räume, in denen Menschen entdecken, beobachten, spielen und experimentieren, verknüpfen, reflektieren und anwenden können. Dafür braucht es kein Methoden- und Spaßspektakel, sondern ein sicheres Fundament, konkret die wissenschaftlich fundierte Kenntnis über Lernprozesse und damit verbundene Bereiche.
Ausblick
Die Frage „Wohin geht die Bildung?“ lässt sich, wie auch schon in der Vergangenheit, nicht pauschal beantworten. Sicher ist jedoch: In einer Welt voller Daten wird das Zurverfügungstellen von pädagogischer Orientierung und Struktur zunehmend wichtiger. Bildung darf nicht auf rasche und kurzweilige Informationsvermittlung reduziert werden. Verstehen, wie Lernen wirklich funktioniert, heißt, das Zusammenspiel von Pädagogik, Psychologie, Soziologie und Neurowissenschaften zu erkennen und in die Praxis umzusetzen und anzuwenden. Die Zukunft der Bildung liegt nicht in der Technik und der blinden Anwendung, sondern in der kompetenten Gestaltung von Begegnungs-, Auseinandersetzungs- und Lernprozessen. Wer lehrt, braucht mehr denn je eine fundierte Basis – und den Mut, Lernräume differenziert und „menschlich“ zu gestalten. Dabei gilt: Bildung bleibt ein neuronal-psychologisch-sozialer Prozess, auch in digitalen Zeiten. Die Zukunft liegt darin, Lernen nicht als technischen Vorgang zu behandeln, sondern als menschliche Praxis, die immer wieder neu verstanden und gestaltet werden muss.
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