
Traumasensibles Handeln
Professioneller Umgang mit traumatisierten Menschen
Autor und Autorin: Manfred Hofferer, Renate Fanninger & Team Bildungspartner Österreich, © BPÖ 2025
Wenn es in Bildungseinrichtungen zu massiven Gewalterfahrungen wie einem Amoklauf kommt, hinterlässt das bei allen Betroffenen tiefe Spuren, individuell, sozial und strukturell. Für Lehrende entsteht die besondere Herausforderung, in einer Situation mit unvorstellbaren eigenen und den Belastungen der betreuten Betroffenen entscheidungs- und handlungsfähig zu bleiben. Das gilt insbesondere dann, wenn man in die Schule und den Klassenraum zurückkehrt, in der bzw. in dem nur wenige Tage zuvor ein schwer traumatisierendes Ereignis stattgefunden hat. Dort gilt es, mit den Lernenden einen neuen Alltag zu gestalten, Betroffene zu stabilisieren und dabei selbst gesund zu bleiben.
Traumata und damit assoziierte Reaktionen nach schweren Gewalterfahrungen wie bei einem Amoklauf sind keine Ausnahme, sondern erwartbare Reaktionen auf außergewöhnliche und extreme Stressbelastungen. Lehrende müssen daher Trauma verstehen und mit traumabedingten Symptomen und Reaktionen umgehen können, selbst wenn diese nicht sofort offen zutage treten. D. h., verstehen, was Rückzug, Übererregung, emotionale Erstarrung oder Schwierigkeiten, den Alltag zu strukturieren, bedeutet. Was die Ursache und Auslöser sind, wenn in Gruppenprozessen auch Wut, Schuldgefühle oder aggressive Impulse auftreten. Ohne eine fundierte traumasensible Haltung ist eine angemessene Unterstützung und Begleitung kaum möglich.
Traumasensible Haltung meint eine fachlich reflektierte Haltung im Umgang mit Menschen, die traumatische Erfahrungen gemacht haben. Das ist vor allem deshalb relevant, um die Situation einerseits zu stabilisieren und andererseits vor allem deshalb wichtig, um mögliche retraumatisierende Situationen zu vermeiden und bestmöglich das Sicherheits- und Stabilitätsgefühl sowie die Selbstbestimmung der Betroffenen zu unterstützen und zu fördern.
Besonders im Umfeld von Schulen, Aus- und Fortbildungsstätten und/oder sozialen Einrichtungen ist der professionelle, traumasensible Umgang mit Menschen nach solchen Ereignissen unverzichtbar.
Sicherheit und Beziehung als Grundpfeiler pädagogischer Stabilität
Ein zentrales Prinzip in der pädagogischen Begleitung nach einer Gewalterfahrung lautet: „Sicherheit herstellen, bevor auf Lerninhalte zurückgegriffen wird“. Nicht wenige Menschen erleben nach solchen Erfahrungen so etwas wie einen vollständigen Kontrollverlust. Lehrende müssen deshalb verlässliche Raum- sowie soziale und emotionale Rahmenstrukturen schaffen. Dazu gehören überschaubare und planbare Tagesabläufe, wiederkehrende Rituale und vor allem transparente Kommunikation. Entspannung und Verlässlichkeit werden nicht durch Autorität erzeugt, sondern durch ruhige Präsenz, Vorhersagbarkeit und emotionale Zugewandtheit. Das kann sich im Alltag durch eine klare Begrüßung am Morgen, das Ankündigen von Veränderungen im Ablauf oder eine von den Inhalten gelöste, gleichbleibend zugewandte Gesprächshaltung zeigen.
Dabei ist es entscheidend, dass das Verhalten der Betroffenen zu keiner Zeit bewertet wird. Rückzug, Überreaktionen oder Konzentrationsprobleme haben in der Regel eine körperlich-neurobiologische Ursache. Jeder Versuch, Lernende „zur Vernunft“ zu bringen oder mit Disziplinarmaßnahmen auf emotionales Verhalten zu reagieren, verschärft in der Regel mehr die Symptome, als dass es Ruhe bringt, und ist zum Scheitern verurteilt.
Lehrende sind keine Therapeutinnen und Therapeuten, doch sie wirken stabilisierend, indem sie auch in schwierigen Situationen anschlussfähig sind, emotionale Sicherheit bieten und die Selbstregulation laufend direkt und indirekt unterstützen.
Neurobiologische Grundlagen: Reaktionen verstehen lernen
Menschen, die ein Trauma erlebt haben, können in den darauffolgenden Tagen, Wochen oder Monaten auf kleinste und kleine Auslöser (Trigger) mit intensiven Reaktionen reagieren. Diese Reaktionen sind nicht willentlich steuerbar. Nach einem Amoklauf, wie er in Graz stattgefunden hat, kann etwa ein lautes Geräusch, das Knallen einer Tür oder eine hektische Bewegung eine Übererregung im Nervensystem auslösen. Das liegt unter anderem daran, dass Areale wie die Amygdala oder der Hippocampus bei traumatisierten Personen dauerhaft in Alarmbereitschaft bleiben.
Für Lehrende ist es nicht notwendig, diese Prozesse im Detail zu verstehen, es genügt zu wissen, dass Körper und Psyche nach extremen Erlebnissen und Erfahrungen nur sehr schwer oder (unterschiedlich lange andauernd) auch gar nicht mehr auf „Alltag und Routinen“ schalten können. Daher braucht es gezielte Maßnahmen, die darauf ausgerichtet sind, Ruhe, Vorhersehbarkeit, emotionale Stabilität, ein stabiles Sicherheitsgefühl sowie passende Handlungsspielräume schrittweise wiederaufzubauen und herzustellen.
Gesprächsführung: Orientierung statt Aufarbeitung
Pädagogische Gespräche nach traumatischen Erlebnissen verlangen Geduld und eine gute Sensibilität. Dabei ist es wichtig, dass bestimmte Fehler vermieden werden, wie etwa das Drängen auf Details, das Verharmlosen des Geschehenen und der Erlebnisse oder das vorschnelle Interpretieren von Emotionen und Gefühlen. Grundlegend wichtig ist, dass es keine Verpflichtung und keinen Zwang geben darf, über das Erlebte und Erfahrene zu sprechen und sich auszutauschen. Stattdessen geht es um das Angebot, gegenwärtige Erinnerungen und Gefühle einzuordnen, um Orientierung zu ermöglichen. Nützlich sind offene Fragen wie:
- „Was brauchst du gerade, um dich etwas sicherer zu fühlen?“
- „Was hilft dir, dich im Moment zu konzentrieren?“
- „Was hilft dir, dich im Moment zu konzentrieren?“
- „Gibt es etwas, das dir gerade zu viel ist?“
- „Was würde dir helfen, besser mit der Situation umzugehen?“
- „Was wünschst du dir von mir oder anderen in deinem Umfeld?“
- „Möchtest du etwas teilen oder lieber einfach nur hier sein?“ oder
- „Was könnte dir helfen, besser mit der Situation umzugehen?“
Das Ziel solcher Gespräche ist primär nicht Aufarbeitung, sondern Stabilisierung. Die Haltung der Lehrenden muss dabei klar, ruhig und zu jeder Zeit wertschätzend sein. Emotionales Mitfühlen ist hilfreich, aber Lehrende dürfen sich nicht mit der Rolle des Retters oder der Retterin identifizieren. Wichtig sind die Anerkennung und das Respektieren von Grenzen und das Wissen, wann externe Hilfe durch Expertinnen und Experten notwendig wird.
Gruppenprozesse steuern: zwischen Struktur und Schutzraum
Nach einer Gewalterfahrung sind ganze Gruppen oder Einrichtungen betroffen. Das hat weitreichende Folgen für die weitere pädagogische Arbeit. In Gruppenprozessen zeigen sich sehr oft unterschiedliche Reaktionen: Einige Personen ziehen sich zurück, andere zeigen eine auffällige Überaktivität und wieder andere scheint das Geschehene nicht zu berühren. In solchen Situationen sind für alle verstehbare klare Abmachungen, auf Gemeinschaft bezogene Zu- und Umgangsformen und sozial-emotionale Strukturen wichtig, etwa in Form von Gesprächskreisen mit festen Regeln, kollektiven Ritualen des Innehaltens oder gemeinsamen kreativen Aktivitäten, die keinerlei Leistungsanforderung stellen.
Gruppen benötigen nach einer solchen Krise eine gute Balance zwischen Normalität und geschütztem Raum. Ein Beispiel dafür kann ein wöchentlich festgelegter Reflexions- oder Gedenkkreis sein, in dem Lernende ohne Leistungsdruck über aktuelle Herausforderungen sprechen können, während gleichzeitig gewohnte Unterrichtszeiten und Pausen beibehalten werden, um die Struktur zu sichern. Alle Versuche, „sofort wieder zur Tagesordnung“ überzugehen, sind kontraproduktiv. Genauso wenig hilfreich ist ein ständiges Thematisieren des Erlebten und Erfahrenen, weil das leicht zu Retraumatisierungen führen kann. Lehrende sind gefordert, flexibel auf die aktuelle Situation und Dynamik der Gruppe und der Gruppenmitglieder zu reagieren, Zeit zu geben, Unsicherheiten auszuhalten und Veränderungen achtsam zu planen und zu gestalten.
Selbstfürsorge: Stabilität beginnt bei den Lehrenden
Wer traumatisierte Menschen begleitet, braucht selbst ein stabiles Fundament. Selbstfürsorge ist dabei kein Luxus, sondern ein professionelles Erfordernis. Dazu zählen bewährte Maßnahmen wie zwanglose Gespräche mit Kolleginnen und Kollegen, kurze Atem- und Entspannungspausen zwischen Terminen, strukturierte Aufgaben mit klaren Grenzen, kollegiale Fallbesprechungen oder regelmäßige Bewegung in der Natur, je nach persönlicher Präferenz und Alltagstauglichkeit. Lehrende müssen ihre eigenen Grenzen ausloten und kennen, selbst und in der Gruppe die belastenden Erlebnisse und Erfahrungen reflektieren und sich bei Bedarf professionelle Unterstützung holen dürfen. Teams benötigen feste Zeitfenster für Austausch, Inter- und Supervision und kollegiale Beratung. Zudem sind eine traumasensible Organisationskultur und konkret das Erarbeiten von Krisenplänen und Schutzkonzepten, eingebunden in eine offene Fehler- und Feedbackkultur, notwendig und hilfreich.
Institutionelle Verantwortung: Rahmen schaffen, Schutz ermöglichen
Bildungseinrichtungen haben nach einer massiven Gewalttat nicht nur eine pädagogische, sondern auch eine institutionelle Verantwortung. Wie schon erwähnt, braucht es explizit klare Abläufe: Wer ist Ansprechperson für externe Hilfen? Welche Kooperationspartnerinnen und -partner wie Schulpsychologie, Kriseninterventionsteams oder Traumafachstellen können eingebunden werden? Welche Sicherheitsmaßnahmen sind notwendig, um das Gefühl der Gefährdung bestmöglich zu reduzieren?
Besonders entscheidend ist, dass stärker betroffene Personen, Lehrpersonen wie Lernende, nicht isoliert werden. Reintegration braucht Schutz, Unterstützung und Begleitung, aber keine Sonderrolle. Dementsprechend niedrigschwellig müssen Angebote freiwillig und langfristig angelegt sein, nicht nur für unmittelbar Betroffene, sondern auch für Mitbetroffene, externe Fachkräfte und Angehörige.
Wohn muss die Reise gehen?
Der professionelle Umgang mit traumatisierten Menschen nach exzessiven Gewalterfahrungen erfordert mehr als psychologische Grundkenntnisse. Es geht um den Aufbau und die Zurverfügungstellung von Raum und Rahmene sowie einer pädagogischen Haltung, die Sicherheit schafft, Orientierung gibt und Beziehung und Umgang miteinander auf einer neuen Ebene ermöglicht. Dafür braucht es institutionelle Klarheit, multiprofessionelle Zusammenarbeit und eine kontinuierliche Reflexion des Stands sowie des Handelns der betroffenen Personen. Langfristig wird nur eine Bildungskultur tragfähig sein, die psychische Gesundheit und Krisenresilienz als strukturelle Aufgabe versteht und nicht als privates Problem einzelner. In dieser Kultur ist traumasensibles Handeln kein Zusatz, sondern integraler Bestandteil professioneller Praxis in allen pädagogischen Bildungsfeldern.
Wenn Interesse und Bedarf bestehen, unterstützen wir dich gerne. Reden wir darüber! Unsere Angebote zu diesem Themenbereich:
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