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Opfer-Täter: innen Dilemma
Autor und Autorin: Manfred Hofferer, Renate Fanninger & Team Bildungspartner Österreich, © BPÖ 2025
Ein Amoklauf ist ein Ereignis, das eine Gemeinschaft bis ins Mark erschüttert. Besonders dann, wenn sich der Täter nach der Tat selbst das Leben nimmt, steht die Gesellschaft vor einem besonders grausamen Aspekt des „Opfer-Täter-Dilemmas“. Die direkte Konfrontation, der Dialog und die juristische Rechenschaftslegung mit dem Täter bzw. der Täterin sind unmöglich. Das Dilemma verschiebt sich: Es geht nun zentral darum, das unermessliche Leid der Opfer und ihrer Angehörigen zu verstehen, die komplexen und unbeantwortbaren Fragen nach dem „Warum“ zu verarbeiten und Wege zu finden, eine zutiefst traumatisierte Gemeinschaft zu unterstützen und zukünftige Tragödien zu verhindern.
Was verbirgt sich hinter dem Dilemma in diesem Kontext?
Das ursprüngliche Dilemma, das die Rollen von Opfer und Täter oder Täterin und deren dynamische Wechselwirkung beschreibt, bleibt bestehen, wird aber durch den Suizid des Täters radikal verändert:
- Psychologisch existiert das Dramadreieck nach Karpman hier nicht als interaktives Modell nach der Tat. Die Rollen sind eingefroren. Der Täter bzw. die Tä#terin ist nicht mehr da, um eine Verfolger: innen-Rolle einzunehmen oder die Taten zu leugnen. Der Fokus verschiebt sich auf die Überlebenden und Angehörigen, die in der Opferrolle verharren und mit der Unmöglichkeit der direkten Konfrontation ringen. Die Gemeinschaft kann in dieser Situation in eine kollektive Retter: innen-Rolle schlüpfen, muss aber lernen, diese gesund und nachhaltig auszufüllen.
- Soziologisch treten die Machtgefälle und die Zerstörung des sozialen Gefüges durch die Tat in den Vordergrund. Die Suche nach Schuldigen erweitert sich über die einzelnen Täter: innen hinaus und richtet sich auf Systemversagen, gesellschaftliche Ausgrenzung oder Warnzeichen, die übersehen wurden. Die Tragödie wird zu einem Prüfstein für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und deren Krisenresilienz.
- Rechtlich entfällt die Möglichkeit eines Täter: innen-Opfer-Ausgleichs (TOA) im klassischen Sinne, da der Täter bzw. die Täterin nicht mehr am Leben ist. Das Rechtssystem konzentriert sich auf die Aufarbeitung des Vorfalls, die Untersuchung der Todesursachen, die Unterstützung der Opfer und gegebenenfalls die Klärung von Verantwortlichkeiten Dritter (z.B. bei Fahrlässigkeit im Umfeld des Täters oder systemischen Mängeln).
Ein ganzheitliches Verständnis muss sich in diesem Fall noch stärker auf die Unterstützung der Opfer, die posthume Analyse der Täter: innen-Motivation und die gesellschaftliche Prävention konzentrieren.
Die Perspektive der Opfer und deren Angehörige und Freunde und Freundinnen: Unermessliches Leid und die Suche nach Sinn
Im Falle eines Amoklaufs sind die Auswirkungen auf die Opfer und die gesamte Gemeinschaft in jedem Fall schwerwiegend und dauerhaft.
- Intensivierte psychische Folgen: Die Opfer, Überlebenden und Angehörigen sind mit einem massiven kollektiven Trauma konfrontiert. Neben PTBS (Posttraumatische Belastungsreaktionen) sind tiefe Trauer, Schock, Angststörungen, Depressionen und Schuldgefühle von Überlebenden (Survivor's Guilt: Überlebensschuld) eine typische und zu erwartende Reaktion auf das Ereignis. Zusätzlich wird das Vertrauen in die Sicherheit von Orten wie Schulen oder öffentlichen Plätzen fundamental erschüttert und das ganze Leben gerät in ein schwer auszuhaltendes Ungleichgewicht.
- Fehlende Konfrontation und Abschluss: Die Unmöglichkeit, dem Täter bzw. der Täterin Fragen zu stellen oder eine direkte Rechenschaft einzufordern, ist für viele Opfer zusätzlich schwer belastend. Das „Warum?“ bleibt unbeantwortet, was die Verarbeitung des Traumas und die Suche nach Abschluss erheblich erschwert. Es gibt keine Möglichkeit für eine direkte Entschuldigung oder Wiedergutmachung durch den Täter bzw. die Täterin selbst.
- Ausweitung des Opferbegriffs: Neben den direkt Getöteten und körperlich Verletzten Personen sind auch Augenzeug: innen, Ersthelfer: innen, Lehrer: innen, Mitschüler: innen, die Familien der Opfer und des Täters bzw. der Täterin, sowie die gesamte betroffene Gemeinschaft Opfer einer solchen Tat. Jede und jeder Einzelne trägt eine Last des Schmerzes und die damit verbundenen psychischen und sozialen Folgen.
- Das Phänomen der Täter: innen-Opfer-Umkehr (Victim Blaming): Obwohl der Täter bzw. die Täterin tot ist, kann Victim Blaming auf die Gemeinschaft und indirekt auf die Opfer (z.B. durch Debatten über angebliche Provokationen oder mangelnde "Wachsamkeit" vor der Tat) projiziert werden. Das verstärkt das Leid und lenkt von den eigentlichen Ursachen ab.
- Bedürfnisse der Opfer: Die zentralen Bedürfnisse sind dringlich:
- Anerkennung des immensen Leids und der schmerzlichen Verluste.
- Sicherheit (physisch, emotional und sozial) im Alltag und in der Zukunft.
- Gerechtigkeit, auch wenn sie sich in diesem Fall auf die Aufarbeitung der Umstände, die Etablierung von Präventionsmaßnahmen und die symbolische Verurteilung der Tat konzentriert.
- Wiedergutmachung, die hier vor allem in Form von umfassender psychologischer Betreuung, finanzieller Unterstützung für Opferfamilien und der Schaffung von Gedenkorten oder Initiativen zur Erinnerung und Prävention stattfindet.
- Antworten und Verständnis: Auch wenn der Täter bzw. die Täterin tot ist, suchen die Opfer und die Gemeinschaft nach Erklärungen für die Tat, um Sinn im Unsinn und damit Ruhe zu finden.
Die Perspektive des Täters bzw. der Täterin: Posthume Analyse und das unerklärliche "Warum?"
Da der Täter bzw. die Täterin sich das Leben nimmt, gibt es keine Möglichkeit der direkten Befragung oder Intervention. Die Analyse der Auslöser und Motivationen ist daher eine posthume Aufgabe, die auf Indizien, Hinterlassenschaften und dem Versuch basiert, mögliche frühzeitige Warnzeichen zu identifizieren.
- Täter: innenmotivation (posthum): Die Motivationen für einen Amoklauf sind in jedem Fall komplex und nie eindimensional. Sie umfassen bspw.:
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- Extreme psychische Störungen: Schwerwiegende Depressionen, Psychosen, paranoide Wahnvorstellungen oder schwerwiegende Persönlichkeitsstörungen.
- Tiefgehende soziale Isolation und Ausgrenzung: Ein Gefühl der Nichtzugehörigkeit, Mobbing-Erfahrungen oder mangelnde soziale Unterstützung.
- Rachegelüste: Reale oder vermeintliche Kränkungen, die zu extremen Rachefantasien führen.
- Suizidale Absichten mit erweitertem Suizid: Der Amoklauf als Mittel, um vor dem eigenen Tod ein „Zeichen“ zu setzen und andere mit in den Tod zu reißen.
- Radikalisierung: Ideologische Verblendung, Hass gegen bestimmte Gruppen oder Gesellschaftsordnungen.
- Faszination für frühere Taten: Nachahmungseffekte von anderen Amokläufen.
- Verleugnungs- und Neutralisierungstechniken (vor der Tat): Die psychologischen Abwehrmechanismen finden vor der Tat statt und ermöglichen dem Täter bzw. der Täterin, die mörderischen Absichten zu rechtfertigen und die Taten vor sich selbst zu verharmlosen. Das kann sich in Tagebucheinträgen, Manifesten oder Abschiedsbriefen widerspiegeln, in denen er bzw. sie beispielsweise die Gesellschaft für das eigene Leid verantwortlich macht ("Ablehnung der Opfer / Verdammung der Verdammenden") oder sich als Rächer: in sieht.
- Kognitive Dissonanz (vor der Tat): Auch hier spielte die Dissonanz Reduktion eine Rolle, um das eigene Gewissen zu beruhigen und die Diskrepanz zwischen einem potenziell ursprünglichen Selbstbild und den extremen Tötungsabsichten zu überbrücken. Das könnte bspw. durch eine verzerrte Realitätswahrnehmung geschehen sein, die es dem Täter bzw. der Täterin ermöglicht, die Opfer so weit zu entmenschlichen, dass sie verletzt oder sogar getötet werden können.
- Das "unerklärliche Warum?": Trotz aller Analysen bleibt die ultimative Frage nach dem "Warum?" in der Regel unbeantwortet. Der Täter bzw. die Täterin ist nicht mehr da, um persönlich zu reflektieren, Antwort zu geben, Reue zu zeigen und Verantwortung zu übernehmen. Das ist eine der größten Herausforderungen für die Angehörigen und die mitbetroffene Gemeinschaft.
Lösungsansätze: Beruhigung, Prävention und Gemeinschaft
Die Überwindung des Opfer-Täte: innen Dilemmas in einem solchen Fall erfordert einen Fokus auf kollektive Bearbeitung, umfassende Prävention und den Aufbau einer widerstandsfähigen und gewaltresilienten Gemein- und Gesellschaft.
- Gemeinschaftsbasierte „Restaurative Justiz“: Da ein direkter Täter bzw. ein direkter Täterinnen-Opfer-Ausgleich (TOA) unmöglich ist, muss der Ansatz der „Restaurative Justiz“ auf die Gemeinschaft ausgeweitet werden. Das bedeutet:
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- Räume für Trauer und Erinnerung: D.h., Schaffung sicherer Orte und Rituale für kollektive Trauer und das Gedenken an die Opfer und Betroffenen.
- Unterstützung der Überlebenden, Hinterbliebenen, Angehörigen und Freundinnen und Freunde: Dabei hilft die Organisation von bspw. Foren, in denen Betroffene, begleitet von professioneller Unterstützung, ihre Geschichten teilen und ihre Bedürfnisse äußern können.
- Wiederherstellung des sozialen Gefüges: Hier braucht es Initiativen, die den Zusammenhalt in den betroffenen Gemeinschaften stärken und das Vertrauen in Institutionen und Mitmenschen wiederaufbauen.
- Symbolische Wiedergutmachung: Das kann z. B. durch die Einrichtung von Stiftungen im Namen der Opfer, die Finanzierung von Präventionsprogrammen oder die Schaffung dauerhafter Mahnmale geschehen.
- Umfassende psychologische und therapeutische Interventionen
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- Krisenintervention und Notfallpsychologie: In jedem Fall braucht es unmittelbare, mittel- und langfristige Betreuung nach dem Ereignis, um akute Schocks zu lindern und den Weg für weiterbegleitende Therapien zu ebnen.
- Langfristige Traumatherapie: Unverzichtbar für alle direkt und indirekt Betroffenen, um PTBS (Posttraumatische Belastungsstörung) und andere psychische Folgen zu verarbeiten, ist das Angebot von Traumatherapie. Dazu gehören Einzel-, Gruppen- und Familientherapien.
- Resilienzförderung: In diesem Bereich geht es um niedrigschwellige Programme, die darauf abzielen, ganz allgemein die psychische Widerstandsfähigkeit von Einzelpersonen und Gemeinschaften zu stärken und zu pflegen.
- Gezielte Präventionsstrategien
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- Früherkennung von Warnzeichen: Schulung und Begleitung von Bildungspersonal, Eltern sowie Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, um potenzielle Täter: innen mit psychischen Problemen oder Radikalisierungstendenzen frühzeitig zu erkennen.
- Verbesserung der psychischen Gesundheitsversorgung: Leichterer Zugang zu spezialisierter psychologischer, psychiatrischer und psychotherapeutischer Hilfe, insbesondere für Jugendliche und junge Erwachsene, um Isolation und psychische Krisen aufzufangen.
- Sicherheitskonzepte: Auch nicht übersehen werden darf die Überprüfung und Verbesserung der Sicherheitsmaßnahmen an Schulen und öffentlichen Einrichtungen, ohne ein Klima der Angst zu erzeugen.
- Förderung von Empathie und Konfliktkompetenz: Gefragt sind breit angelegte Bildungs- und Entwicklungsprogramme, die soziale Kompetenzen, Empathie und gewaltfreie Konfliktlösung vermitteln, um ein inklusives und unterstützendes Umfeld zu schaffen.
- Forschung und Analyse: Zudem sind vertiefte Studien zu den Ursachen und Mustern von Amokläufen und damit verbundenen Gewalttaten wichtig, um effektivere und effizientere Präventionsstrategien entwickeln und ausbauen zu können.
- Die Rolle von Empathie und Kommunikation (Gemeinschaftlich)
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- Offener Dialog: Die Aufgabe dabei ist die Schaffung von physischen und psychischen Räumen, in denen über das Trauma, die Trauer und die Wut gesprochen werden darf, ohne zu werten und zu urteilen.
- Medienkompetenz: Das benötigt einen sensiblen und verantwortungsbewussten Umgang mit der Berichterstattung, um Nachahmungstaten zu vermeiden und die Opfer nicht zusätzlich zu viktimisieren.
- Gemeinschaftliche Unterstützung: Gefragt ist Ermutigung zu gegenseitiger Hilfe, um leichter das Gefühl der Isolation zu durchbrechen und wieder eine kollektive Stärke aufbauen und entwickeln zu können.
Zusammenfassung
Ein Amoklauf mit anschließendem Suizid des Täters oder der Täterin stellt das Opfer-Täter-Dilemma in seiner dunkelsten und schmerzhaftesten Form dar. Die Abwesenheit des Täters bzw. der Täterin verhindert eine direkte Konfrontation und erschwert die Suche nach Antworten und Gerechtigkeit. In diesem Kontext verschiebt sich der Fokus von der Bestrafung hin zur umfassenden Unterstützung und Begleitung der Opfer sowie der traumatisierten Angehörigen und Gemeinschaften. Zugleich rückt die posthume Analyse der Tat in den Vordergrund, um aus ihr zu lernen und künftige Tragödien zu verhindern.
Das erfordert ein tiefes kollektives Verständnis, das umfassende psychologische Unterstützung, Ansätze der Restaurative Justiz sowie eine kontinuierliche Anstrengung zur Stärkung der psychischen Gesundheit und des sozialen Zusammenhalts einschließt. Nur durch ein derart ganzheitliches und empathisches Vorgehen kann eine Gesellschaft beginnen, Wunden zu schließen und Wege zu finden, um derartige Katastrophen künftig zu verhindern.
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